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Eine Seuche in der Stadt

Aufschlussreich ist die zeitversetzte Rezeption von Ljudmila Ulickajas Eine Seuche in der Stadt (Čuma, ili OOI v gorode), vor mehr als vier Jahrzehnten verfasst, im Frühjahr 2020 publiziert. Ulickaja selbst etabliert die Verbindung zur Pest; fungiert bei Camus die Epidemie als Metapher für den Nationalsozialismus, wird das historische Seuchensujet hier rekontextualisiert. Rasch bestätigt sich der „Verdacht auf Pest“ (2021: 34) bei einem Mikrobiologen, der in der stalinistischen Sowjetunion unter politischem Hochdruck (ebendieser provoziert den fatalen Laborunfall) an einem Vakzin forscht. Mit seiner behördlich angeordneten Dienstreise schleppt Rudolf Mayer die ‚Seuche in die Stadt‘; kurz nach seiner Ankunft in Moskau stirbt er an Lungenpest. „Wenn keine außerordentlichen Maßnahmen ergriffen werden, besteht die Gefahr einer Epidemie“ (35f.): Dafür steht in der UdSSR des Jahres 1939 ein seinerseits außerordentlicher Organismus zur Verfügung – der Geheimdienst NKVD, der sofort seine „Schwarze[n] Raben“ (d. h. Häftlingstransporter) ausschickt (45). „Vermutlich war dies das einzige Mal in der Geschichte dieser brutalen und rücksichtslosen Organisation, dass sie dem Wohl ihres Volkes diente […]“, wie Ulickaja kommentiert (107). Die doppelte Brisanz des Plots ist klar: Für Valerij Frid, bei dem Ulickaja sich mit ihrem Szenario bewirbt, ist vor dem Hintergrund seiner eigenen Lagervergangenheit die positive Rolle des NKVD inakzeptabel; heute wirft der Text die heikle Frage nach den Vorteilen eines um demokratische Grundrechte unbesorgten Pandemiemanagements auf, immerhin „hat uns China ja vorgeführt, um wie viel besser ein autoritäres System auf eine solche Krise reagieren kann“ (Zeillinger 2021).


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