Читать книгу Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe. Herausgegeben und ergänzt um Aufsätze, Primärbibliographie und Nachwort von Matthias Bormuth und Martin Vialon онлайн

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In seinem Wesen und Auftreten hat der Heilige diesem Zuge des Volkscharakters vollkommen entsprochen – ja er hat ihn vielleicht erst wieder aufleben lassen und aus der Erstarrung von Jahrhunderten erweckt. Die Wandlungen und Zustände seiner Seele waren ein öffentliches Ereignis, und von dem Tage, an dem er dem scheltenden Vater vor dem Angesicht des Bischofs und des ganzen Volkes seine Kleider zurückgab, um sich ganz dem himmlischen Vater zu überliefern, bis zu jenem, an dem er sich, sterbend, nackt auf die nackte Erde legen ließ, ut hora illa extrema, in qua poterat adhuc hostis irasci, nudus luctaretur cum nudo10 war jede seiner Handlungen eine Geste von nie erlebter und weittragender Gewalt, die die Menschen unmittelbar zu stürmischen Tränen und begeisterter Demut bewegte. Die wenigen Worte, die von ihm genau so überliefert sind, wie er sie sprach oder schrieb, tragen noch seine drängende und bei vieler Einfalt leidenschaftlich bewegte Geste in sich: Dico tibi sicut possum de facto anime tue beginnt der Brief an den unbekannten Minister, und mit et und et steigern sich, beschwörend und bestätigend, die Ermahnungen. Der Brief Ita dico tibi, fili mi an Bruder Leo ist in seiner völlig ungeschickten und unklaren Ausdrucksweise eines der beredtesten Dokumente aller Zeiten – aus dem 12. und 13. Jahrhundert gibt es gewiß nicht seinesgleichen. Was soll man vollends zu seinem Testament, was zu den Laudes creaturarum, dem SonnengesangSonnengesang (laudes creaturarum), sagen, dieser ersten, unbeschreiblichsten Blüte des Volgarevolgare, in der die einfachste, unschuldigste, vertrauteste Liebe zum Irdischen ausatmet in dem vertrauten Gruß an den Tod, als sei auch er Kreatur, ein irdisches Ding, von Gott geschaffen und würdig des Ruhmes? So viel von seinen Worten; eine überwältigende Fülle von Zeugnissen für seine ganz persönliche, immer bildhaft-konkrete Gestalt bietet seine Legende, in jeder der vielen Fassungen, in denen sie uns überliefert ist. Schon bei ihrer Entstehung rankt sich die Phantasie mitdichtend um sie herum, des Streites um Priorität und Glaubwürdigkeit ist kein Ende; vom ersten Tage an ist sie ein Volksbuch, die unkritischste Redaktion, nämlich die vulgärsprachlichen FiorettiFioretti (des hl. Franz), haben bis zum heutigen Tage eine gewaltige Verbreitung, weit über die fromm katholischen Kreise hinaus, und ein großes Jahrhundert der Malerei scheint fast nur aus der Geschichte des Franz von AssisiFranz v. Assisi das göttliche Pneuma der Inspiration empfangen zu haben.

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