Читать книгу Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe. Herausgegeben und ergänzt um Aufsätze, Primärbibliographie und Nachwort von Matthias Bormuth und Martin Vialon онлайн

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Hier ist es nicht ganz so leicht, Beispiele anzuführen, denn es handelt sich um Dinge, die, überall in der Legende verstreut, sich doch schwer herausheben und losgelöst darstellen lassen. Das Augenfälligste ist die Art, wie der Heilige die Gedanken, Wünsche und geheimen Nöte der anderen errät und ihnen zu helfen weiß, ohne sie zu beschämen; die Legende bewahrt uns eine ganze Anzahl solcher Züge. War einer der Brüder krank und dem Fasten nicht gewachsen, wagte es aber nicht sich einzugestehen, so wußte es Franziskus sofort; er holte selbst Speise, setzte sich zu dem Leidenden, begann, um jenem die Scham zu nehmen, selbst zu essen und, wie BonaventuraBonaventura sagt, eum ad manducandum dulciter invitare.32 Oder er errät, auf einem Esel reitend, die Gedanken eines vornehm geborenen Bruders, der zu Fuß nebenher gehen muß; sogleich steigt er ab und bietet ihm an zu reiten.33 Nie versäumt er es, dem anderen eine Freude zu machen, und man versteht wohl, daß der erkrankte Bruder, den er mit Weintrauben überraschte (er war vor Tag sie pflücken gegangen, damit es ja niemand merke), bis zu seinem Tode sich dieses Morgens nicht ohne Tränen erinnern konnte. Doch es gibt hier auch ernsthaftere Dinge. Er fühlt, wenn sich aus irgendeinem geheimen Grunde die Gedanken eines Menschen verdüstern, wenn eine finstere Verworrenheit sich seiner bemächtigt, und im richtigen Augenblick greift er ein mit der ganzen Macht seiner zugleich ernsthaften und strahlenden Güte. Nichts von dem, was wir neuerdings einen Komplex nennen, kann vor ihm bestehen. Einen Scheuen, der von ihm mißachtet und schlecht beurteilt zu sein glaubt und darum schon beginnt an der Gnade zu verzweifeln, ruft er plötzlich zu sich, versichert ihn seiner besonderen Liebe und bittet ihn, so oft es ihm gefalle, zu ihm zu kommen.34 Einem anderen, von Anfechtungen gequälten, die er aber aus Scham nicht beichten kann, sagt er unvermittelt, er sei befreit von dieser Beichte, und die Anfechtungen würden ihm zum Ruhme, nicht zur Schuld gerechnet werden.35

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