Читать книгу Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe. Herausgegeben und ergänzt um Aufsätze, Primärbibliographie und Nachwort von Matthias Bormuth und Martin Vialon онлайн

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Fast alle Personen der Komödie erscheinen selbst. DanteDante trifft sie an dem Ort, den das Urteil Gottes ihnen angewiesen hat, und dort ergibt sich eine unmittelbare Begegnung in Rede und Antwort. Mit Franz von AssisiFranz v. Assisi ist es anders. Zwar sieht ihn DanteDante ganz am Schluß des Gedichts, auf seinem Sitz in der weißen Rose zwischen den Seligen des Neuen Bundes; aber er spricht nicht mit ihm, und an den anderen Stellen, wo er erwähnt wird, erscheint er nicht selbst; so auch da, wo die Erwähnung am ausführlichsten und grundsätzlichsten geschieht, eben im elften Gesang des Paradiso; Franz spricht nicht selbst, sondern es wird über ihn berichtet. Ist dies schon erstaunlich, so ist es noch mehr Rahmen und Art des Berichtes.

DanteDante und Beatrice sind im Sonnenhimmel von einem singenden Reigen seliger Geister umgeben, die, ihre Bewegung unterbrechend, sich als KirchenväterKirchenväter und Weisheitslehrer zu erkennen geben; einer von ihnen, Thomas von AquinoThomas v. Aquin, nennt und charakterisiert sich und seine Gefährten (hier ist auch die berühmte Stelle über Siger von BrabantSiger v. Brabant), und alsbald beginnt der Reigen von neuem. Nun hat aber DanteDante den Sinn einiger Worte des Thomas nicht verstanden: Ich war ein Lamm der Herde des DominicusDominicus, Hl., wo man gute Weide findet, wenn man nicht abirrt – dieser Vers, u’ben s’impingua se non si vaneggia (und auch noch eine andere, auf Salomo bezügliche Stelle) bedarf für DanteDante einer Erklärung. Thomas, der wie alle Seligen die unmittelbare Schau des ewigen Lichtes besitzt, so daß ihm durch dasselbe auch DantesDante Gedanken nicht verborgen bleiben können, erfüllt den unausgesprochenen Wunsch nach Erläuterung seiner Worte, und aufs neue werden Gesang und Reigen unterbrochen, damit Thomas, von BonaventuraBonaventura unterstützt, seine Worte kommentieren kann. Dieser Kommentar umfaßt drei Gesänge. Im ersten, dem elften, erzählt Thomas das Leben des heiligen Franz und knüpft daran eine Klage über den Verfall seines eigenen, des dominikanischen Ordens; im zwölften schildert umgekehrt der Franziskaner BonaventuraBonaventura das Leben des DominicusDominicus, Hl. und schließt mit einem Tadel der Franziskaner; der dreizehnte Gesang enthält, wiederum aus Thomas’ Munde, den Kommentar über die König Salomo betreffende Äußerung. Aus den beiden Gesängen über die BettelordenBettelorden sollen DanteDante und der Leser lernen, daß beide Orden für das gleiche Ziel gegründet wurden, daß sie sich ergänzen und daß bei beiden das Leben der Stifter gleich vollkommen, der Abfall der Nachfolgenden gleich abscheulich war; daß man also in ihnen wohl gedeiht, wenn man dem Vorbild der Stifter folgt und nicht davon abirrt. Beide Gesänge sind ein Kommentar, lehrhaft, genau eingebaut in DantesDante Geschichtsdeutung, mit scharfen polemischen Wendungen nicht nur gegen die beiden Orden, sondern auch gegen PapsttumPapsttum und Geistlichkeit überhaupt. Zu dem Kommentar gehört auch die Darstellung von Franzens Leben; sie ist Teil eines Kommentars, und zwar eines mehrere hundert Verse umfassenden Kommentars, zu einem Nebensatz, der eine Zeile in Anspruch nimmt und der wohl auch kürzer zu erläutern gewesen wäre. Dies also ist der Rahmen: Thomas, der große Kirchenlehrer, kommentiert ausführlich einen eigenen Ausspruch. Solche Haltung oder Tätigkeit entspricht seiner Person; aber ist dies ein Rahmen, der der Biographie des Franciscus von AssisiFranz v. Assisi entspricht? Nach modernem Empfinden gewiß nicht. Wir haben zwar gelernt, die Art des mittelalterlichen Kommentierens aus ihren Voraussetzungen zu verstehen; wir wissen, daß sie aus der besonderen Art des damaligen Lehrbetriebes erwuchs; wir haben auch vielleicht sonst schon erfahren, daß sich in dem Geranke der kommentierenden Paraphrase zuweilen eine unvermutete Blüte findet, die der Stamm, nämlich der Text, kaum erwarten ließ, und oft genug ist er völlig verdeckt vom Kommentar; ja, dies Phänomen scheint sich nicht nur auf die Literatur zu beschränken, wenn man an manches InitialInitial oder an manche SequenzSequenz denkt. Aber hier, wo DanteDante das Leben des heiligen Franz erzählen will? Wäre dafür nicht ein weniger lehrhafter, weniger scholastischer Rahmen zu finden gewesen?

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