Читать книгу Handbuch der Poetik, Band 1. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst онлайн

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Nicht anders ist auch in der Tat der Komplex von Vorschriften, Gesetzen, Definitionen und Beobachtungen entstanden, welchen wir mit dem Namen einer deutschen Poetik bezeichnen. Da hierzu eine Vereinigung von literar-historischem Bewusstsein mit gelehrter Kritik und ästhetischer Spekulation erfordert wurde, so zeigen sich die ersten Spuren nicht vor dem Beginn des siebzehnten Jahrhunderts. Aber sowohl Opitz und seine Mitstrebenden als die sehr zahlreichen nachfolgenden "Poetiken" dieses Jahrhunderts haben für die Theorie der Dichtkunst sehr wenig geleistet, sie beschränken sich fast ausschließlich auf Vorschriften für die praktische Übung der Poesie. Erst das "philosophische" achtzehnte Jahrhundert fand für die Lösung der Aufgabe die höheren und allgemeineren Gesichtspunkte; anknüpfend an die kunst-philosophischen Schriften der Franzosen, Italiener und Engländer entstand in Deutschland der berühmte literarische Streit, der, obwohl im Grunde um wenige, vereinzelte und verhältnismäßig untergeordnete Fragen sich bewegend, doch die Veranlassung wurde, dass aus dem gesteigerten Interesse an der literarischen Kritik die Untersuchung nun den Aufschwung zu den höchsten Zielen gewann: zu der Frage nach dem Wesen des Schönen überhaupt und was in den einzelnen Künsten dafür zu gelten habe. Wenn schon die Streitschriften der Schweizer diese Richtung eingeschlagen hatten, so erfuhr um die Mitte des Jahrhunderts die neue Wissenschaft auf dem Boden der Wolffschen Philosophie eine systematische Bearbeitung und erhielt zugleich den Namen, den sie seither getragen hat, durch die "Ästhetica" des Frankfurter Professor Baumgarten. Seine Schriften und die seines Schülers und Anhängers Meier bildeten das Fundament, auf welches noch eine lange Zeit die Untersuchungen über die Theorie der Dichtung gegründet wurden. Aber bleibenden Wert und absolute Geltung vermochten sie so wenig zu behaupten als die Wolffsche Philosophie selbst, aus welcher ihre obersten Prinzipien geschöpft waren. Die Baumgartensche Theorie lieferte weder unmittelbar praktisch verwendbare Gesetze und Regeln, welche direkt zur Bekämpfung der Mängel der deutschen Dichtung, wie sie um die Mitte des Jahrhunderts sich entwickelt hatte, geeignet gewesen wären, noch war sie tief genug gegründet, um in den folgenden Jahrzehnten den ungemein erweiterten und bereicherten Anschauungen vom Wesen der Poesie standhalten zu können.

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