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Jener Grundzug des deutschen Charakters, die Beschaulichkeit und der Ernst, der uns alles zu durchforschen und zu prüfen nötiget, bedingt indeß gleichzeitig auch den Trieb, aus der allgemeinen Rundschau immer wieder in uns selbst heimzukehren, das Errungene innerlich zu verarbeiten und die eigene besondere Natur möglichst eigentümlich auszuprägen. Und diese einsiedlerisch individualisierende Eigentümlichkeit führt, wie bei den einzelnen Stämmen, so auch in den geistig bevorzugten Persönlichkeiten, notwendig zu der größten Mannigfaltigkeit. In Frankreich hat die dynastische Politik den freien Adel zu Hofe gezähmt und die Physiognomie der Provinzen verwischt, in England die Reformation fast Alles uniformiert. In Deutschland dagegen geht jene Sonderbündlerei durch die ganze Geschichte. Vom Uranfang an sitzen die alten Sassen ein, jeder für sich auf seinem Hofe ohne Städte, im Mittelalter gruppieren sich zahllose Kleinstaaten, wie Planeten mit eigenem Licht und Kreislauf, um die Centralsonne des Kaisers. Welcher Reichtum der verschiedensten Bildungen vom kaiserlichen Hoflager durch die vielen kleinen Residenzen bis zur einfachen Ritterburg hinab; dann das bunte Leben der Reichsstädte und endlich die noch fortdauernde Mischung von Katholisch und Protestantisch! Es ist natürlich, diese Mannigfaltigkeit mußte auch in unserer Literatur, namentlich in der Poesie, sich abspiegeln, und nicht nur in dem sehr verschiedenen Klange des Volksliedes in Pommern, Tirol, Westphalen oder Österreich, sondern auch bei den Heroen unserer Literatur. Oder wo wäre bei uns jene stereotype Familienähnlichkeit der einzelnen Dichter, wie wir sie bei den französischen Classikern finden? Man denke nur z.B. an Lessing und Klopstock, an Goethe und Schiller! Jeder zieht, unbekümmert um den Andern, mit seiner scharfen Eigentümlichkeit aus, um sich eine neue Welt zu erobern. Da gibt es denn freilich auch tüchtige Wunden und Scharten, und es fehlt niemals an dem Troß gemeiner Landsknechte, die nicht für die beste Sache, sondern um den besten Lohn an Geld oder Weltlob mitfechten wollen und alles möglichst verwirren. Wir streifen sonach allerdings fast beständig an die Grenzen der Anarchie. Aber im großen ganzen ist es doch immerhin ein frischer Wellenschlag, wenn auch die siebente Welle sich immer wieder rückwärts überstürzt; ein unausgesetzter herzhafter Kampf, der uns einerseits vor Stagnation und anderseits vor dem Geistesdespotismus einer Pariser Hauptstadt bewahrt, denn welcher Tyrann wäre mächtig genug, so viele absonderlich formierte Köpfe und Querköpfe unter einen Hut zu bringen? Nirgends hat daher, etwa Spanien ausgenommen, das volkstümliche Element so dauernd und tapfer mit der Kunstdichtung der Gelehrten, die Gelehrtenpoesie dann ihrerseits wieder mit der Kirche, die Romantik mit dem unpoetischen Verstande gerungen wie in Deutschland, wo der ganze Boden mit den Trümmern der wechselnden Niederlagen bedeckt ist und die Geister der Erschlagenen und die versprengten Troßbuben noch beständig mitten unter den Siegern umherirren, die bald selbst wieder die Besiegten sein werden.

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