Читать книгу Die Stimme des Atems. Wörterbuch einer Kindheit онлайн
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Das Bärlein wird das einzige Kuscheltier meiner Kindheit. Ich esse, turne, spreche, schlafe mit ihm; es geht, steht, sitzt, ist krank und gesund mit mir, es streckt mir die Ärmchen entgegen, es dreht den Kopf nach mir. An Bärlein richte ich, sobald die schlimmsten Asthmaanfälle nachgelassen haben, in Hochdeutsch die Plaidoyers für meine Unschuld. (Wüsstʼ ich noch, worin die Anschuldigung bestanden hat!) Ihm erzähle ich vom Glück, die Schule los zu sein. Bärlein hört sich alles an, nickt, gibt Antwort in einer halblauten, zu einem Zirpen gepressten Kinderstimme, altklug und ebenfalls hochdeutsch.
Als mir im Kantonsspital Olten Dr. Rodel die Mandeln schneidet (ich bin acht oder neun) und ich am nächsten Tag, unfähig zu schlucken oder den Mund zu schliessen, nach Hause gebracht werde, bereitet das Bärlein mir, im Bett wartend, eine der schmerzend-schärfsten Freuden meiner Kindheit. Die Mutter hat ihm einen roten Mantel mit verschiedenfarbigen Längsstreifen gestrickt, den vier weisse Kugelknöpfe über dem Bäuchlein schliessen. Nun kann ich es ausziehen, einkleiden, schlafenlegen. Es bleibt ununterbrochen lieb, verändert seinen sorgenvollen Knopfaugen-Blick nie, ob ichʼs verküsse oder in einem Wutanfall weinend an die Wand des Krankenzimmers schleudere. Es erträgt Launen, Verzweiflungen, Glück und Ungeduld – ein Heiliger. Ich bin längst kein Kind mehr, doch das Bärlein darf nie weiter als eine Armeslänge von mir entfernt liegen, in die Kissen oder die Daunendecke gebettet, und ich komme mir lieblos vor, wenn ich am Morgen feststelle, dass ich auf ihm geschlafen habe. Es kennt jede Einzelheit meines Lebens, es ist Zeuge alles Bösen und Guten. Ich stehe in seiner Schuld noch heute.