Читать книгу Die Stimme des Atems. Wörterbuch einer Kindheit онлайн
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Während der Primarschulzeit bin ich zwei Jahre im Hochparterre und drei Jahre im zweiten Geschoss unterrichtet worden; das oberste Stockwerk war der Bezirksschule vorbehalten; offenbar wurde weite Aussicht mit Erkenntnis gleichgesetzt. Ich bin nicht selten kurz vor Pausenende – die Pause war «im Freien» zu verbringen – oder nachdem meine letzte Unterrichtsstunde ausgeläutet war, die Treppe hochgerannt, um meinen Vater zu begrüssen, zuweilen, um ihm etwas auszurichten, häufiger wohl, um mich zehn Sekunden lang in der Zuneigung von Julius Rütsch zu sonnen.
Meine freundschaftliche Beziehung zum Vaterzimmer kulminierte am Vorabend des Kinderfestes während der Hauptprobe des Mädchenreigens, die als erste von zwei öffentlichen Aufführungen galt. Er entfaltete sich gut 15 Meter in der Tiefe auf der Turnplatzwiese. Die klassische Musik schallte über den Rasen; die Mädchen in weissen Tüllkleidern schwärmten aus den Turnhallen. Ich lag in einem der drei grossen Fenster, die nach Osten gingen, neben mir der Bruder; hinter uns oder in einem andern Fenster standen die Eltern. Ich kam mir als Mitbesitzer der Loge vor, besonders dann, wenn Lehrer, deren Zimmer anderswohin blickten, eintraten und um die Erlaubnis baten mitzuschauen. Die Herren, mit oder ohne Gattin, traten herzu, bedankten sich, während ich mich, meines natürlichen Anrechts wegen, nicht zu bedanken brauchte. Ihre Schulautorität war dahin, sie grüssten wie normale Menschen und liessen mir auf Radiator und Fenstersims den Vortritt, reihten sich hinter mir ein, und ich glaubte zu wissen, dass sie einen Teil der ihnen gewährten Gunst auch meiner Grosszügigkeit verdankten. Denn hätte ich mich nicht gegen den Zutritt gewisser Dritter verwahren können? Was, wenn meine Gründe zwingend gewesen wären? Hätte der Vater sich trotz eines noch nicht besetzten Logenplatzes höflich entschuldigt: Alles längst vergeben! Wäre er über meinen Einspruch hinweggegangen? Ich habe es nie versucht, vor allem wohl weil kein Anlass bestand, da meist Freunde wie Frank Bertschinger anklopften, und auch weil es schöner ist, seine Macht potentiell auszukosten und sie nicht auf die Probe zu stellen.