Читать книгу Giacometti hinkt. Fünf Wegstrecken, drei Zwischenhalte. Erzählungen онлайн

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Die Nationalrätin der Grünen sieht sich um: Wo der Bau fehlt, einfach Kunst, nichts als Kunst? Sie lacht sich ins Fäustchen, diese Helen, bevor sie auch diese Idee verwirft. Und mit zwei ledernen Ungetümen in der Hand zur nächsten Tramstation trottet.

Um sie anderntags beim Brunnen vor dem von Kas­tanien gesäumten Park ihres Wohnviertels zu postieren. Hier könnten sie einen Abnehmer finden. Aber nein, am nächsten Tag steht das Paar noch immer beim Brünnlein, das sorglos drauflos plätschert, als wüsste es nichts von der Not, Militärschuhe loszuwerden, und diese Not wird zur Plage, die Schuhe wiegen schwer und schwerer, sie sind ein moralisches Schwergewicht geworden.

Helen kramt wieder in den Fotoalben, da liegt alles kunterbunt in einem Karton, was hätte geordnet und einge­klebt werden sollen. Die Sicht auf die rege politische Vergangenheit hat ihre Vaterstadt dann bald verklärt und an Tischrunden popularisiert. Schliesslich verteidigte der Pater familias in den verabscheuten Schuhen das Vaterland. Ihr eigener war am Gegenufer des Rheins, im Hügelzug des Kohlfirst als Soldat der Fliegerabwehr postiert worden, wo er auch Pläne von der Abwehrstellung gegen die feindliche Luftflotte anzufertigen hatte. Militärschuhe dienten also grundsätzlich und ganz persönlich einem edlen Zweck, wenn man darin gegen die Hitlerbarbarei aufstand, in diesem Sinne lautete die Erzählung, wenn je die Rede darauf kam, freilich wurde sie niemals ausge­deutscht, während an den eidgenössischen Stammtischrunden die Saga vom Heldentum des tapferen Eidgenossen schon fast bilderbuchmässig kolportiert wurde, heruntergebetet. Nie bestätigt, nur gemunkelt wurde ferner über ein tragisches Ereignis, das dem Vater im Aktivdienst wi­derfahren sei. Dass er einen Flüchtling, der bei Diessenhofen über den Rhein geschwommen war, hatte an Land ziehen wollen, und dem schon fast Ertrinkenden, nach Atem Ringenden am Ufer seinen Ka­ra­biner als Rettungsstange hinhielt, doch der junge Mann sei vor seinen Au­gen erschossen worden. Le­genden, Ge­schichten, Vermutun­gen, sie waren das Erinne­rungsfutter der Nachgeborenen, die im nur langsam ausgeatmeten, stetig glimmenden Deutschenhass aufwuchsen. Denn eines war klar und konnte an den Stammtischen nicht genug betont werden: D’Schwobe: Die gesamtdeutschen Sauschwaben hatten diesen schrecklichen Krieg verschuldet, aus welchem das Tagebuch der Anne Frank als ein sprechendes Dokument aufgetaucht und in der Schule weitergereicht worden war, unter der Bank, denn man wusste, dass kein Lehrer darauf eingehen würde und die Antwort ein verschwommenes Das-versteht-ihr-noch-nicht sein würde, sollte jemand den Finger aufstrecken.

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