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AdS, Solothurner Literaturtage,

Michal Florence Schorro

Barbara Sauser, geboren 1974 in Bern, lebt in Bellinzona. Studium der Slawistik und Musikwissenschaft in Fribourg. Nach mehreren Jahren im Zürcher Rotpunkt­verlag arbeitet sie seit 2009 als freiberufliche Überset­zerin aus dem Italienischen, Franzö­sischen, Russischen und Polnischen.

Anna Ruchat

Neptunjahre

Erzählungen

Aus dem Italienischen von Barbara Sauser

Limmat Verlag

Zürich

«Dies ist Dein Dir zugemessener Kreis:

suche Deine Worte, zeichne Deine

Morphologie, drücke dich aus.»

Gottfried Benn, Probleme der Lyrik

Die Seegfrörni von 1963

«Seit ich meine Uhr verloren habe,

bin ich gezwungen, von Zeit zu Zeit

Menschen anzusprechen.»

Thomas Bernhard, Ist es eine Komödie?

Ist es eine Tragödie?

31. Januar. In der Stadt hat es schon mehrmals geschneit, aber noch nie so ausdauernd. Seit dem Morgen fällt beinahe ununterbrochen trockener Schnee. Die Gehwege sind weiß und fast frei von Spuren, weiß sind auch die Geleise der Straßenbahn, und sogar auf den Leitungen setzt zwischen zwei Durchfahrten trockener Schnee an, um dann langsam über die Scheiben der Wagen hinunter­zurutschen. An der Haltestelle steht eine Frau. Ihr dichter, grauer Haarschopf ist übersät mit glitzernden Flocken, die Hände hat sie in den Taschen eines grauen Mantels vergraben, der in der Taille eng zusammengebunden ist wie ein Morgenmantel. Surrend kommt die Straßenbahn wenige Schritte neben der Frau gemächlich zum Stehen. Sie steigt ein. Im halbleeren Wagen ist es häuslich warm, das Licht ist behaglich. Die Frau schüttelt sich den Schnee aus dem Haar und wischt mit den bloßen Händen die Schultern sauber. Dann setzt sie sich auf ­einen Zweiersitz ans Fenster. Sie blickt nach oben in die dichten Flocken im Licht der Straßenlaterne. Das schöne Gesicht der Frau ist angespannt. Die Hände, die auf der Vorderlehne ruhen, sind gerötet, die Haut an den Knöcheln ist rissig. An jeder Haltestelle blickt sie sich mit ihren hinter einer Brille versteckten großen, grauen Augen um, als wäre ihr jemand gefolgt, doch die wenigen anderen Fahrgäste kümmern sich nicht um sie, sind auf ein Buch oder eine leise geführte Diskussion konzentriert oder schauen gedankenverloren in den Schnee hinaus. Die Straßenbahn fährt über eine Brücke, rumpelt dann über ein paar Weichen und biegt in die Bahnhofstraße ein, wo sie langsam zum Stehen kommt. Es ist Sonntagabend. Mehrere Personen steigen ein, einige mit Koffer oder einer großen Reisetasche. Manche bleiben, an die Scheibe angelehnt, stehen, mit Ski an den Schultern und Moonboots an den Füßen. Neben die Frau setzt sich ein bärtiger junger Mann. Sie schlägt die Beine übereinander und schmiegt sich an das Fenster, die Handtasche fest umklammert. Leise fährt die Straßenbahn wieder an.

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