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«Könnten Sie mir wohl sagen, wie spät es ist?», fragt die Frau den bärtigen Mann unsicher und zieht den Mantelärmel zurück. Sie hält ihm ihr schmales Handgelenk hin: «Ich habe meine Armbanduhr verloren.» – «Neun Uhr», antwortet der Mann und fügt, von einer Hand­bewegung begleitet, «ungefähr» hinzu. «Neun Uhr?», sagt die Frau, «mein Sohn ist vor fast genau zwanzig ­Jahren um halb zehn zur Welt gekommen.» Dann sieht sie den Mann nachdenklich an: «Wissen Sie, dass Sie mich an jemanden erinnern?» Der Mann schmunzelt. «Ich glaube, Sie sind ein guter Mensch», fährt die Frau fort, «könnten Sie mich bis Tiefenbrunnen begleiten?»

«Ich sollte eigentlich an der nächsten Haltestelle aussteigen. Ich bin mit Freunden verabredet. Aber wenn Sie möchten, begleite ich Sie gern.» Die Frau legt die Hände in den Schoß und sieht ihn misstrauisch an. «Woher kenne ich Sie bloß?» Dann blickt sie aber erneut abwesend aus dem Fenster.

«Wenn es so schneit, ist die Strecke von Bellevue bis Tiefenbrunnen eine Pracht. Kommen Sie doch wenigstens bis zur nächsten Haltestelle mit», sagt sie, als hätte der Mann die Bitte abgelehnt, sie zu begleiten, «zwei Haltestellen, fahren Sie mit mir bis Paradeplatz, dann steige ich in die 2 um und Sie kehren nach Hause zurück.» Die Straßenbahn fährt leise. Der Mann mustert seine Sitznachbarin, ihren fiebrigen Blick hinter den jetzt etwas beschlagenen Brillengläsern. Die Straßenbahn hält an, der Mann steht nicht auf, niemand steigt aus.

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