Читать книгу Das eigene Leben. Reportagen онлайн

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Nach dem Essen dann die Christmette; das kennt man. In späteren Jahren zog es die geschrumpfte Familie in den Dom, dort wurde die schönste Musik geboten in der Stadt. Noch später, auf dem ersten Schallplattenapparat, der auch auf Weihnachten gekauft wurde, kurz nach der Ungarnkrise, hörte man ein perfektes Weihnachtsoratorium, das alles in den Schatten stellte, DEUTSCHE GRAMMOPHONGESELLSCHAFT/ARCHIVPRODUKTION. Die Musik wurde raffinierter, aber man machte sie nicht mehr selber, und der Glaube nahm ab, wenigstens meiner. Er konnte Camus nicht widerstehen, dessen heroische Melancholie dem Gymnasiasten sehr gefiel. Im Dom dirigierte Kapellmeister F. mit ausdruckstarken Händen, und von ihm war in der Familie bekannt, dass er in seiner Jugend für die Mutter eine Neigung gehabt hatte, die er jedoch nie so deutlich artikulierte, dass es der Mutter genügend aufgefallen wäre; erst nach der Heirat erfuhr sie etwas von F.s bis anhin verheimlichten Gefühlen, und so konnte sich der Gymnasiast denn während des Weihnachtsoratoriums vorstellen, wie er doch vermutlich ganz anders herausgekommen wäre mit einem Kapellmeister als Vater, wie gern er den berühmten Namen des F. getragen und so viel weniger Schwierigkeiten beim Einstudieren und Üben des WOHLTEMPERIERTEN KLAVIERS gehabt hätte. Der Vater sass neben ihm in der Kirchenbank, ahnte nichts von den Gedanken des Sohnes, pries nach der Mette die musikalischen Führungskünste von Kapellmeister F., und dann ging man nach Hause, nicht ohne die Spektabilitäten und Honoratioren der Stadt, welche sich auf dem Domplatz breitmachten, zu grüssen, wobei der Vater seinen Hut dann angelegentlichst nach allen Seiten lüftete.

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