Читать книгу Das eigene Leben. Reportagen онлайн

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Die Feier tönte nicht kitschig, weil sie den Alltag verlängerte, sozusagen sein Kulminationspunkt war. Die Mutter zum Beispiel hatte die Botschaft von der Gleichheit aller Menschen – Gleichheit vor Gott, aber Gleichheit alleweil – wirklich kapiert und praktiziert, und in ihrem Gefolge hatten die sechs Kinder fast keine andere Wahl, als diese auch zu glauben, und von der Gleichheit ausgehend, wurde auch Gerechtigkeit angestrebt. Man hörte zum Beispiel, dass es wichtigere Dinge im Leben gab als Geld. Man wurde von der Mutter, welche ihr Schwiegersohn Kurt «La reine mère» nannte, dahingehend instruiert, dass alle Menschen gleich viel wert seien und oft nur das Spiel des Zufalls den einen zum Reichen, Mächtigen und den andern zum Armen, Verschupften gemacht habe, dass auch in allen so etwas Ewiges lebe, in den Reichen und Arroganten allerdings vielleicht ein bisschen weniger als in den Stillen und Kleinen; und dass man nicht der Autorität, sondern den Argumenten zu folgen habe, weil nämlich jeder, im Zeichen der Gleichheit, über den eigenen Verstand verfüge. Dadurch hat sie mindestens einen ihrer Söhne, welcher auch nach der Kindheit glaubte, es komme im Leben auf die Macht der Argumente, nicht auf die Argumente der Macht an, in permanente Schwierigkeiten gestürzt. Allerdings konnte es auch ein Zeichen von besonderer Auserwähltheit sein, wenn ein Kleiner dank eigener Tüchtigkeit und Strebsamkeit zum Millionär wurde, wie ihr Bruder, der tüchtig akkumulierende, und dieses, obwohl der Vater nur einen kleinen Gemüsehandel betrieben hatte, und auf diesen self made man, der im Alter von dreissig Jahren die Matura (Institut Juventus) gemacht und später sich noch den Doktortitel geholt hatte, war sie stolz, und natürlich hätte sie auch gerne studiert und einen Titel geholt, das machten dann zwei ihrer Söhne für sie, der eine davon mit knapper Not. So einen Treibsatz bekam man eingebaut in der Familie, einen Stolz nach aussen, natürlich gepaart mit christlicher Demut nach innen – vor der Mutter. Sie war keine künstliche Mutter. Zum Beispiel hatten wir gelernt, dass man sich nicht ducken soll, wenn möglich, dass Lehrer und Pfärrer nicht immer recht haben, weil sie Lehrer und Pfärrer sind, und wenn diese Autoritätsfiguren zu Hause reklamierten wegen angeblicher oder wirklicher Verfehlungen eines ihrer Kinder, so wurde die Reklamation streng auf ihren Wahrheitsgehalt hin abgeklopft und erst dann, je nach Lage der Dinge, Lehrer/Pfarrer oder Kind ermahnt. Die Autorität hat bei ihr nie automatisch recht gehabt, nur weil sie Autorität war, und wenn sie zur Überzeugung kam, dass in der Sonntagspredigt irgendein theologischer Gedankengang nicht stimmte, stellte sie den Prediger nach dem Gottesdienst mit aller gebotenen Energie zur Rede, wobei der Fehlbare mit Blicken aus ihren notorisch blauen Augen angebohrt wurde wie der heilige Sebastian von den Pfeilen.

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