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An Weihnachten war es dann schön. Alle glaubten daran in der Familie, und es stimmte. Es stimmte mehr als die profanen Feste, die ich seither erlebt habe, aber es stimmte nur, weil man glaubte, und als ich im Internat Camus zu lesen begann, wurde das Weihnachtsgefühl beschädigt: aber weder Camus noch Sartre, noch Foucault haben mir später ein Fest beschert, und auch keine linke Partei, oder doch nur eines im Kopf. Es stimmte damals vielleicht, weil man klein war und am 24. Punkt zwei Uhr nachmittags der Run auf die gehorteten Schleckwaren begann und eventuell die Märklin-Lokomotive unter dem Christbaum lag, aber vor den Geschenken, bitte sehr, das Weihnachts-Evangelium und die Lieder. Das Evangelium wurde in aller Regel vom ältesten Bruder vorgetragen, und die Botschaft war eigentlich nicht schlecht, auch wenn seine Stimme ein bisschen zitterte. Man hörte sich das stehend an, und es begab sich aber zu jener Zeit, dass diese Worte nicht als aufgesetzt empfunden wurden, trotz der Feiertagsgewänder, und nicht als lebensfremd, und es war nicht kitschig, auch wenn der Vater manchmal nasse Augen bekam vor Ergriffenheit und dann kurz ins Badzimmer verschwand, bevor er auf seiner Querflöte, die er nur einmal im Jahr benutzte, die Melodie von TOCHTER ZION, FREUE DICH, JU-U-U-U-UBLE LAUT, JE-RU-U-U-SALEM so laut und falsch pfiff, dass man ihm, dem stillen, in sich gekehrten Mann, den Jubel glaubte (Händel). Niemand dachte bei «Tochter Zion» an den Zionismus, und Jerusalem war eine Traumstadt. Die Querflöte wurde vom Klavier und von der Geige und der Blockflöte begleitet und von zwei- bis dreistimmigem Gesang, man konnte die Rührung verscheuchen, indem man möglichst kräftig sang, die Mutter stand im Hintergrund und summte leise mit, weil, gesanglich war sie nicht stark, und die Stube, welche der Vater in seiner soignierten Art SALON nannte, mit französischer Aussprache, obwohl sie dafür viel zu klein war, platzte vor Musik aus allen Nähten. LIEB NACHTIGALL WACH AUF war übrigens auch ein beliebtes Weihnachtslied, WACH AUF DU SCHÖNES VÖGELEIN. Über dem Klavier hingen vier alte Stiche, die Geschichte vom verlorenen Sohn erzählend, aus dem 16. Jahrhundert, JOHANN SEBALD BEHAM FECIT, die hatte der kunstsinnige Vater, der wenig Geld, aber guten Geschmack besass, vom sauer Ersparten gekauft, war er doch als Revisor des Verbandes Schweizerischer Darlehenskassen weit im Lande herumgekommen und hatte immer wieder eine Möglichkeit erspäht, sein Haus mit bedeutsamem Zierat, der den Geschmack seiner sechs Kinder bilden sollte, auszustaffieren.

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