Читать книгу Das eigene Leben. Reportagen онлайн

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Die nächste Anstalt in St. Gallen, in die ich gesteckt wurde, war die Kaserne auf der Kreuzbleiche. Es war noch nicht die Zeit der Dienstverweigerer und auch nicht die Zeit der Aufrührer, die gerne in der Rekrutenschule ausharren, weil man dort schiessen lernt. Die Kaserne war überhaupt nicht mehr barock, sondern im klassizistischen Stil gehalten, wie das Schlachthaus und die Kantonsschule. Der Klassizismus entspricht dem aufblühenden Bundesstaat, so wie der Barock dem absterbenden Ancien régime der sanktgallischen Äbte entspricht. Das Schweizerkreuz auf den Militärwolldecken musste sich immer genau im Zentrum der eisernen Betten befinden. Das sanktgallische Liktorenbündel, die sogenannten fasces, war hier nirgends zu erblicken. Neue Manieren wurden eingeführt, eine Steigerung der Sekundarschulmanieren fand statt. Man musste den Vorgesetzten, welche an ihrem feinen Tuch erkennbar waren, seinen Namen über fünfzig Meter weit lauthals entgegenschreien. Sie nannten es grüssen oder melden. Ärschlings musste man sich eine grosse Verkniffenheit und Straffung angewöhnen. Sie nannten es strammstehen. Der Feldweibel prüfte die Strammheit der Arschmuskeln. Sollte ich einst liegenbleiben in der blutüberfüllten Schlacht, sollt ihr mir ein Kreuzlein schneiden auf den dunklen tiefen Schacht. Die Armee dient sowohl der Abwehr von Angriffen von aussen als auch der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung nach innen. Die Ordnung des Lehrers Tagwerker wurde in letzter Instanz auf der Kreuzbleiche garantiert, ebenso die Ordnung am Rosenberg. In der dritten Woche war Bajonettexerzieren. Parade vor, Parade rückwärts, Leiche abstreifen hiess der Befehl, dazu wird eine Bewegung mit dem aufgepflanzten Bajonett ausgeführt, indem man zuerst horizontal in den Feindkörper hineinsticht, der vorläufig noch imaginär war, und sodann den Leichnam mit dem linken Fuss abstreift, dabei mit dem rechten Fuss Posten fassend. Nachdenklich geworden, weil uns in der Kath. Sekundarschule die Liebe zum Feind eingeflösst worden war, auch das Hinhalten der linken Wange, wenn der Rektor auf die rechte geschlagen hatte, und weil wir die Feindesliebe so weit getrieben hatten, sogar den Rektor und Präfekten zu lieben, liess ich mich bei Leutnant R. für die Sprechstunde vormerken, die immer nach dem Hauptverlesen stattfand. Kommt nur zu mir, wenn ihr ein Problem habt, hatte er gesagt. Leutnant R. hörte sich mein Problem an: Warum sollten wir einen abstrakten Feind abstechen, wenn wir bisher unsere konkreten Peiniger in der Schule hatten lieben müssen?

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