Читать книгу Das eigene Leben. Reportagen онлайн
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So war das im Schatten der Klostertürme, im Herzen St. Gallens, dort beim Steinachwasserfall, wo Gallus gestolpert und dann auf die Idee gekommen war, die Gegend mit Christentum zu überziehen. So war das in dieser Schule. It seems so long ago, wie Leonard Cohen sagen würde. So weit entfernt und abseits scheint diese Zeit zu liegen, obwohl es erst 18 Jahre her sind, dass man sie nur noch als Archäologe und Paläontologe der eigenen Vergangenheit erfassen kann, so eingeschrumpft und verdorrt wie die Mumie der ägyptischen Königstochter in der Stiftsbibliothek. Und doch steht die Kathedrale noch im alten Glanz, wurde sogar restauriert, wo wir immer zur Schulmesse gingen, wo die vielen geilen Barockengel herumflattern und Maria Magdalena in ihrer Brunst die Hände verwirft und der sinnliche Stuck uns Zöglingen den Kopf verdrehte. Und dann die Kuppel mit der hemmungslosen Durcheinandermischung verzückter Frauen und Männer, besonders schöne Leistung des Barockmalers Joseph Wannenmacher aus Tomerdingen bei Ulm, eine richtige Seelenbadewanne, wenn man sich die Kuppel umgekehrt vorstellte, das schamlose Familienbad mitten im Sakralraum. Manchmal haben wir uns die Kathedrale während langen Hochämtern oder Maiandachten auch als spanische Reithalle vorgestellt, ein vorzüglicher Rahmen für die internationalen St.Galler Pferdesporttage. Erst wenn man die enthemmte Sinnlichkeit dieser Kathedrale kennt, wird man die Leistung des Rektors vollumfänglich würdigen: uns mitten in dieser lüsternen Architektur zur Enthaltsamkeit vergattern, das wäre nicht jedem gelungen. Aber wenn man's richtig bedenkt, lag es eventuell doch in der Natur der Sache. Der Barock stachelte unsere Sinnlichkeit an, und weil die Sinnlichkeit nirgendwo anders herauskonnte, mussten wir sie voyeurhaft am Barock befriedigen. Der Präfekt hätte gesagt: Diese Kunst ist terminus a quo und terminus ad quem. Der Barock biss sich in den Schwanz, wie man vielleicht sagen könnte. Die Brunst konnte aber nicht nur zu den Augen hinaus, sondern auch über die Stimmbänder entweichen, indem die Zöglinge dem Domchor beitraten. Der Domchor war weitherum berühmt für die Qualität seiner Aufführungen.