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Fredi, der damals für uns noch Herr Senn hieß, hatte mich, so lang er war, mit einer derart tiefen Verbeugung begrüßt, dass ich meinte, er küsse mir die Hand; und da ich nicht recht wusste, wie das bei einem Handkuss vor sich ging, fragte ich mich dann noch eine ganze Weile, ob er es vielleicht doch wirklich getan hatte. Wir waren zum Essen in einen Ne­benraum hinübergewechselt, eine verwinkelte Puppenstube mit vielen kleinen Tischen, alle gedeckt und mit Blumen und brennenden Lämpchen in den Fensternischen; und hier nun bedienten uns Kellner, fast alles Italiener. Mein Bruder schwieg, er war vielleicht verärgert, dass er sich nicht wie Herr Senn zum Essen umgezogen hatte: Er sah älter aus, machte ein Gesicht à la Po-Ebene, eine trockene undurchdringliche Miene, und ließ die Schultern hängen wie unser Vater auf den Fotografien; ich mochte es sogar gern, wenn Gianni so finster war: Er kam mir dann viel er­wachsener vor als ich, wie ein Schatten, der uns alle stumm bemitleidete: Er rieb sich die Stirn und die Augen, als ob er die Gedanken verscheuchen wollte, die in seinem Innern mahlten, und daraus hervor tauchte dann ein fahles fliehendes Gesicht wie ein Nieskrampf, ausgehöhlt in den Augen, die düsterer als ein Abgrund wurden. So war es jenen Abend an mir zu reden: Herr Senn nämlich richtete dauernd Fragen an mich, vielleicht auch nur aus Höflichkeit: Er redete zu laut, ganz erregt vor Wagemut, Sätze in einer fremden, im Grammatikbuch gelernten Sprache nun von sich zu geben: Was er sagen wollte, lief durch ein Übersetzungsmaschinchen und kam wie gedruckt heraus, so dass ich bei meinen Antworten das Gefühl hatte, nicht mit ihm zu reden, sondern ein Formular auszufüllen. (Aber dann flocht er gern bei jeder Gelegenheit «lo giuro, lo giuro» ein, ich schwöre es, wie ein geborener Italiener, und wiederholte es sehr unbefangen, vermutlich um sich vor Bethli aufzuspielen.) Er hatte eine blonde Haarsträhne, die ihm in die Stirn fiel, und schöne Musiker­hände: Ich stellte ihn mir an dem Abend als kleinen Jungen vor, wie die Schüler, die Schweizer, denen ich jeden Morgen unterwegs begegnete: schmächtig, mit einem Haarbüschel in der Stirn und ernstem Blick hinter der Brille hervor, in der Hand den Geigen- oder Cellokasten. Zu Bethli sprach er immer schweizerdeutsch, rasend schnell und mit ganz anderer Stimme: Ich versuchte zu erraten, was zwischen ihnen war, ob Zärtlichkeit, heimliches Einverständnis oder sonst was. Was sie sich wohl schon gesagt, wie sie einander kennengelernt, ob sie eifersüchtig waren, welche Erinnerungen sie miteinander hatten. Mir wäre es komisch vorgekommen, so einen Freund zu haben, mit Haaren wie ein Junge und der dazu noch deutsch spricht: der mir vielleicht die Hand geküsst hätte, bevor er mir einen dicken glänzenden Ring an den Finger ansteckte. (Aber hatten sie dann den Ring, so wusste ich schon, wie sie sich die Finger drückten: Täglich traf ich sie in der Bahn, die Pärchen halbwüchsiger Verlobter, die sich an allen vier Händen ge­packt hielten, wie mit Zangen so fest für immer, für immer.)

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