Читать книгу Am Äquator. Die Ausweitung der Gürtellinie in unerforschte Gebiete онлайн
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Die Wahrnehmung steckt im Auge, nicht im Hirn, nur bring das mal einem Experten bei. Die Wahrnehmung des Restaurators hat kein Urteil, je länger er an einem Gemälde arbeitet, umso weniger. Für den Restaurator hat ein Meisterwerk sakrosankt zu sein. Der sieht eine Fläche voll Können vor sich, ein Können, das auch ein Wissen ist und furios über die Fläche fegt, da und dort von Diagonalen gebrochen, welche mit Rötel liniert sind; sieht aus wie Ölkreide, ist aber Hodlers virtuoser Pinselstrich, der wechselt zu Magenta, schlägt weiter rechts ein als violetter Blitz in die Gewandung der schwarzen Schattengestalten. Als wollte er die weghaben, bestimmt wollte er ihre Absichten durchkreuzen, damit sie dem Mädchen nichts antun. Damit sie sich nicht plötzlich wenden, um ihr das Grinsen des Totentanzes einzupeitschen.
Der Restaurator bemerkt, dass er auf der Holzbrücke überm Sinnieren in die Knie gegangen ist. Er seufzt, ist ja nicht gerade die für ihn typische Position. Weiter, er muss weitermachen. Eigentlich würde er das ganze Bild so belassen. Der Schmutz, der sich auf dem Bild niederliess, hat wie ein schützender Firnis gewirkt. Hat Schatten gebildet auf der gelblichen Hauttönung des Mädchenaktes, der ihm jetzt kräftiger erscheint als früher. Er hielt sie für magersüchtig, damals, aus Distanz. Anorektisch ist die, hat er gemurmelt, als sie wie auf dem Leichenwagen ankam. Als das monumentale Gemälde, geschoben von vier Spediteuren, dirigiert vom verantwortlichen Museumskurator, in der Werkstatt anrollte und für ihn vertäut wurde. Festumzug für eine Nackte und vier bis fünf Racheengel, hat er bei sich gedacht, weil er das Bild nicht mochte, es erinnerte ihn zu sehr an die Uni und alle verpatzten Jahre, die folgten, das ist ihm nicht geheuer, doch ja, wer weiss, vielleicht ist die Arbeit an der Jugend eine Verjüngungskur? – Die hat Power, die kann sich wehren –, rief die Assistentin begeistert.