Читать книгу Bruder Tier. Mensch und Tier in Mythos und Evolution онлайн

27 страница из 72

Warum aber müssen die Vögel ziehen? Weil alle Tiere, in ähnlicher Art wie der Mensch, von bestimmten Rhythmen des Lebens durchwirkt sind. Es ist unberechtigt, den Wandertrieb der Tiere mit dem Reise- und Forschungsverlangen der Menschen auch nur annähernd zu vergleichen. Dieser fatale Irrtum hat immer neu die wahren Einsichten verhindert. Die Tiere wandern und ziehen so, wie die Menschen schlafen und wachen. Die Vögel, die sich zum Zug nach dem Süden vorbereiten, erleben eine Bewusstseins-Änderung, der sie nachgeben müssen. Es ist ein Abendwerden, ein Einschlaf-Erlebnis, das sie überkommt. Und nun beginnen sie vom Süden zu träumen, und jede Art hat ihren gemeinsamen Traum, schließt sich im Erlebnis dieses Traumes zusammen und findet, Schlafwandlern gleich, ihren Weg in das Land ihrer Träume. Bei ihnen allen tritt eine Linderung des Verhaltens ein. Der gleiche Lucanus erzählt: «Auf der Kurischen Nehrung habe ich oft genug beobachten können, wie Wanderfalken und Sperber in unmittelbarer Nähe von Drosseln, Staren, Finken oder anderen Kleinvögeln dahinzogen, ohne dass sie irgendwelche Raubgelüste zeigten, und dass auch alle diese Kleinvögel die sonst so gefürchteten Räuber gar nicht beachten, sondern unbekümmert um deren Nähe ihre Luftreise fortsetzten, ohne auch nur im Geringsten die Flugrichtung zu ändern.» Das ist nur dadurch zu erklären, dass sie alle, Räuber und Opfer, gemeinsam zu Träumern geworden sind. Ein leichter Schlaf hat sie überkommen, und während der Zeit ihres südlichen Aufenthaltes werden sie aus diesem Schlaf erst erwachen, wenn der frühe Morgen ihrer Rückreise anbricht. Dann beginnen sie, nach ihrer Heimat zurückzustreben; diese jedoch ist Tag und Tagewerk. In der Heimat tritt das Erwachen ein – der Nestbau, die Brutpflege, die Sorge für die Aufzucht. Nachdem diese Arbeit getan ist, beginnt der Abend des Aufbruchs und der Traum des Südens sie wieder zu überkommen.

Правообладателям