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Im letzten Jahr war Raffi nicht mehr da, er hatte seine Matura ein Jahr früher abgelegt. Jetzt waren es nur noch die Mädchen, die um Gion-Gieri warben. Oder besser gesagt um Pippo, wie sie ihn im letzten Schuljahr nannten. Und er um sie, soweit das überhaupt nötig war. Mit einem Mal war er, wenn auch nicht zum alleinigen Star, so doch zu einem von denen in der Abschlussklasse geworden, die im Mittelpunkt standen. Einer, den man sah und auf den man hörte. Seine Klassenkameraden mochten und respektierten ihn, sie missgönnten ihm weder seine guten Noten noch seine Erfolge bei den Mädchen. Abblitzen liess er kaum eine. Die Lehrer gaben ihm zu verstehen, dass sie ihm fast alles zutrauten und dass sie keinen Anlass sahen, sich um seine Zukunft zu sorgen.

Gion-Gieris Angewohnheit, es mit der Wahrheit nicht immer so genau zu nehmen, war niemandem aufgefallen. Das Muster, auf eine Frage mit einem Geflunker, einer Halbwahrheit oder einer faustdicken Lüge zu antworten, oder auch ungefragt eine solche aufzutischen, hatte er sich unter dem Regime des alten Caduff angewöhnt. «Wo warst du?», war eine häufige Frage des Alten gewesen. «Im Stall», Gion-Gieris stereotype Antwort, um sich vor Schlägen zu schützen, dabei war er bei der Tante gewesen. «Warst du das?» – «Nein», sagte er reflexartig, selbst wenn ein Ja gar keine Sanktionen, sondern ein Lob nach sich gezogen hätte. «Wer hat das gesagt?» – «Der Lehrer», auch wenn es der Pfarrer gewesen war. «Wo ist der Schlüssel?» – «Weiss nicht», dabei hatte er ihn im Hosensack. «Liebst du Tante Senta?» – «Es geht.» Ein Nein hätte Schläge bedeutet, ein Ja ebenfalls, denn der Alte liebte seine Schwester nicht. Er hasste sie, weil er in ihrer Schuld stand. Die Antwort setzte gleichwohl eine Tracht Prügel ab. In der Klosterschule waren es dann andere Fragen. «Hast du auf die Matheprüfung gebüffelt?» – «Nein», war die Antwort, wenn er gebüffelt, «Ja», wenn er nicht gebüffelt hatte. «Was ist dein Vater?» – «Posthalter.» Posthalter war sein Vormund, Casanova, der Vorgesetzte des mittlerweile verstorbenen Postboten Wexler. «Und deine Mutter?» – «Kunstmalerin. Sie kommt aus Russland.» Der Gemeindeschreiber des Nachbardorfs hatte eine russische Kunstmalerin im Internet kennen gelernt und dann aus ihrer Heimat zu sich ins Tal geholt; das hatte sich herumgesprochen und ihm hatte es imponiert. «Ohne Scheiss?! Dann kannst du Russisch?» – «Ähm, nein, sie ist taubstumm.» Er musste lernen, seinen Kopf rasch mit einer zweiten Lüge aus der Schlinge zu ziehen, wenn die erste aufzufliegen drohte. Das erforderte eine Portion Geistesgegenwart, die hatte er, und Unverfrorenheit, die eignete er sich an. Die Gefahr, dass er eine Antwort vergass und sich später selber entlarvte, war gering, denn auch seine eigenen Worte waren in seinem Kopf gespeichert, nachdem er sie einmal ausgesprochen und also selber gehört hatte. Oft spürte Gion-Gieri auch heraus, was der andere hören wollte, und gab genau dies zur Antwort. «Gefällt dir der Schlager, Pippo?» – «Super», dabei fand er ihn kitschig. «Du hast gestern mit Vanessa geknutscht, stimmts?» – «Nicht geknutscht, ich hab sie getröstet.» – «Liebst du mich?» – «Ja, klar.» Das war dann gar nicht unbedingt gelogen. Nur hätte eine andere die gleiche Antwort bekommen.

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