Читать книгу Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe. Herausgegeben und ergänzt um Aufsätze, Primärbibliographie und Nachwort von Matthias Bormuth und Martin Vialon онлайн

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Die Einsicht in den figuralen CharakterAllegorie u. Figuration der Komödie bietet zwar gewiß keine allgemein gültige Verfahrensweise für die Deutung jeder strittigen Stelle, allein es lassen sich doch aus ihr einige Grundsätze für die Deutung herleiten. Man darf sicher sein, daß jede in dem Gedicht erscheinende geschichtliche oder mythologische Gestalt nur etwas bedeuten kann, was mit dem, was DanteDante von ihrer geschichtlichen oder mythischen Existenz wußte, in engstem Zusammenhang steht, und zwar in dem Zusammenhang von Erfüllung und Figur; man wird sich immer davor hüten müssen, ihr die irdisch-geschichtliche Existenz ganz abzusprechen und ihr eine nur begrifflich-allegorische Deutung zu geben. Das gilt insbesondere für Beatrice. Nachdem im 19. Jahrhundert die romantisch-realistische Auffassung den Menschen Beatrice allzusehr betont hatte und geneigt war, aus der Vita Nova etwas wie einen sentimentalen Roman zu machen, hat nun ein Rückschlag eingesetzt, und man bemüht sich, immer genauere theologische Begriffe zu finden, in denen sie ganz aufgehen soll. Allein auch hier ist kein Entweder-Oder. Der Litteralsinn oder die historische Wirklichkeit einer Gestalt steht bei DanteDante nicht im Widerspruch zu ihrer tieferen Bedeutung, sondern figuriert sie; die historische Wirklichkeit wird durch die tiefere Bedeutung nicht aufgehoben, sondern bestätigt und erfüllt. Die Beatrice der Vita Nova ist eine irdische Gestalt; wirklich erschien sie DanteDante, wirklich grüßte sie ihn, wirklich verweigerte sie ihm später den Gruß, verspottete ihn, klagte um eine tote Freundin und um den Vater, und wirklich starb sie. Freilich kann es sich bei dieser Wirklichkeit nur um eine Erlebniswirklichkeit DantesDante handeln – denn ein Dichter formt und verwandelt das ihm Geschehende in seinem Bewußtsein, und nur von dem, was in diesem Bewußtsein lebt, nicht von einer äußeren Wirklichkeit, ist auszugehen. Und ferner ist zu berücksichtigen, daß auch die irdische Beatrice für DanteDante vom ersten Tage ihres Erscheinens an ein vom Himmel gesandtes Wunder ist, eine Inkarnation göttlicher Wahrheit. Das Wirkliche ihrer irdischen Gestalt ist also nicht, wie bei VergilVergil oder Cato, bestimmten Daten einer geschichtlichen Überlieferung, sondern der eigenen Erfahrung entnommen, und diese Erfahrung zeigte ihm die irdische Beatrice als Wunder.50 Aber eine Inkarnation, ein Wunder sind wirklich geschehende Dinge; Wunder geschehen nur auf Erden, und Inkarnation ist Fleisch. Bei den modernen Forschern hat die Fremdartigkeit der mittelalterlichen Wirklichkeitsanschauung dahin geführt, daß sie Figuration und AllegorieFiguration u. AllegorieAllegorie u. Figuration nicht von einander scheiden und zumeist nur die letztere verstehen.51 Selbst ein so kluger theologischer Interpret wie MandonnetMandonnet, P. (a. a. O. S. 218/219) kennt nur zwei Möglichkeiten: entweder ist Beatrice eine bloße Allegorie (und dies ist seine Meinung), oder aber sie ist la petite Bice Portinari, worüber er sich lustig macht. Ganz abgesehen von der Verkennung des Wesens der dichterischen Wirklichkeit, die in solchem Urteil liegt, ist es vor allem erstaunlich, daß er zwischen Wirklichkeit und Bedeutsamkeit eine so tiefe Kluft sieht. Ist denn die terrena Jerusalem darum keine geschichtliche Wirklichkeit, weil sie figura aeternae Jerusalem ist?

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