Читать книгу Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe. Herausgegeben und ergänzt um Aufsätze, Primärbibliographie und Nachwort von Matthias Bormuth und Martin Vialon онлайн

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Der geschichtliche VergilVergil ist, in DantesDante Augen, zugleich Dichter und Führer. Er ist als Dichter ein Führer, weil in seinem Gedicht die politische Ordnung, die DanteDante als die vorbildliche, als die terrena Jerusalem47 ansieht, der allgemeine Frieden unter dem römischen Kaisertum, in der Unterweltsfahrt des gerechten Aeneas prophezeit und verherrlicht wird; weil darin die Gründung Roms, des vorbestimmten Sitzes von weltlicher und geistiger Gewalt, im Hinblick auf seine zukünftige Mission besungen wird. Er ist vor allem auch als Dichter ein Führer deshalb, weil alle späteren großen Dichter von seinem Werke entzündet und inspiriert wurden; das hebt DanteDante nicht nur für sich selbst hervor, sondern führt noch einen zweiten Dichter ein, StatiusStatius, um dasselbe auf die eindringlichste Weise zu bekunden: auch in der Begegnung mit SordelloSordello und vielleicht auch in dem vielumstrittenen Vers über Guido CavalcantiCavalcanti, G. (Inf. 10, 63) klingt das gleiche Motiv an. Sodann ist VergilVergil als Dichter ein Führer, weil er über seine zeitliche Prophezeiung hinaus auch die ewige überzeitliche Ordnung, das Erscheinen Christi, das mit der Erneuerung der zeitlichen Welt zusammenfiel, in der vierten Ekloge verkündet hat – freilich ohne die Bedeutung seiner eigenen Worte zu ahnen, aber doch so, daß die Nachfolgenden sich an diesem Lichte entzünden konnten. Er war ferner als Dichter ein Führer, weil er das Totenreich beschrieben hatte – also ein Führer ins Totenreich, der den Weg kennt. Aber nicht nur als Dichter, auch als Römer und als Mensch war er zur Führung bestimmt; nicht nur die schöne Rede, nicht nur hohe Weisheit stehen ihm zu Gebot, sondern eben die Eigenschaften, die zur Führung befähigen, die seinen Helden Aeneas und Rom überhaupt auszeichnen: iustitiaiustitia und pietaspietas. Die Fülle der irdischen Vollkommenheit, die zur Führung befähigt und bestimmt, bis dicht an die Grenze der Einsicht in die göttliche und ewige Vollkommenheit, ist für DanteDante schon im geschichtlichen VergilVergil verkörpert, und dieser ist ihm eine figura für die nun im Jenseits erfüllte Gestalt des Dichter-Propheten als Führer. Der geschichtliche VergilVergil wird «erfüllt» von dem Bewohner des limbo, dem Genossen der großen antiken Dichter, der auf Beatrices Wunsch DantesDante Führung übernimmt. So wie er einst, als Römer und Dichter, Aeneas nach göttlichem Ratschluß in die Unterwelt steigen ließ, damit er das Schicksal der römischen Welt erfahre, so wie sein Werk zum Führer der Nachlebenden wurde, so wird er nun von den himmlischen Gewalten zu einer nicht minder bedeutenden Führung aufgerufen: denn es ist nicht zu bezweifeln, daß DanteDante sich selbst in einer Mission sieht, die ebenso bedeutend ist wie die des Aeneas: er ist berufen, der Welt, die aus den Fugen ist, die rechte Ordnung zu verkünden, die ihm auf seinem Wege offenbart wird. Und VergilVergil ist berufen, ihm die wahre irdische Ordnung, deren Gesetze im Jenseits vollstreckt, deren Wesen dort erfüllt ist, zu zeigen und zu deuten – zugleich mit der Richtung auf ihr Ziel, die himmlische Gemeinschaft der Glückseligen, die er in seiner Dichtung geahnt hat – aber doch nicht bis in das Innere des Gottesreiches hinein, denn der Sinn seiner Ahnung ist ihm während seines irdischen Lebens nicht offenbart worden, und er ist ohne solche Erleuchtung als ein Ungläubiger gestorben; und so will Gott nicht, daß man durch ihn in sein Reich kommt; nur bis an die Schwelle des Reiches, nur bis zu jener Grenze, die seine gerechte und edle Dichtung zu erkennen vermochte, darf er DanteDante führen. «Du zuerst», so sagt StatiusStatius zu VergilVergil, «hast mir den Weg zum Parnaß und zu seinen Quellen gezeigt; und dann hast du mich, nächst Gott, erleuchtet. Du hast getan wie einer, der durch die Nacht geht und das Licht hinter sich trägt; sich selbst hilft er nicht, aber er belehrt die Nachkommenden. Durch dich ward ich Dichter, durch dich Christ.»48 Und so, wie er als irdische Gestalt und Wirkung StatiusStatius zum Heil geführt hat, so führt er nun, als erfüllte Figur, DanteDante: denn auch DanteDante hat von ihm den schönen Stil der Dichtung empfangen, durch ihn wird er vom ewigen Verderben gerettet und auf den Weg des Heils geleitet; und wie er einst StatiusStatius erleuchtete, ohne selbst das Licht, das er trägt und verkündet, zu sehen, so führt er jetzt DanteDante bis an die Schwelle des Lichts, von dem er nun zwar weiß, das er aber selbst nicht schauen darf.

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