Читать книгу Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe. Herausgegeben und ergänzt um Aufsätze, Primärbibliographie und Nachwort von Matthias Bormuth und Martin Vialon онлайн

102 страница из 203

In der Vita Nova ist also Beatrice ein lebender Mensch aus DantesDante Erfahrungswirklichkeit – wie sie ja auch in der Komödie kein intellectus separatus, kein Engel, sondern ein seliger Mensch ist, dem am Jüngsten Tag sein Leib auferstehen wird. Übrigens gibt es keinen theologischen Schulbegriff, der sie wirklich ganz umfaßte; manche Ereignisse der Vita Nova passen in keine Allegorie, und für die Komödie kommt noch die Schwierigkeit hinzu, sie gegen manche andere Gestalten des Paradiso, etwa die prüfenden Apostel oder den heiligen Bernhard, genau abzugrenzen. Das Besondere ihres Verhältnisses zu DanteDante läßt sich auf diese Art schon gar nicht befriedigend erfassen. Die älteren Erklärer haben in Beatrice meist die Theologie gesehen, die neueren sind viel genauer vorgegangen; allein dies führt zu Überspitzung und zu Irrtümern: selbst MandonnetMandonnet, P., der den sehr weiten, aus dem Gegensatz zu VergilVergil geschöpften Begriff ordre surnaturel auf sie anwendet, wird dann allzu spitzfindig in den Unterabteilungen, begeht Irrtümer52 und preßt die Begriffe. Was DanteDante ihr für eine Rolle zuschreibt, wird aus ihren Handlungen und den Bezeichnungen ihrer Person ganz deutlich. Sie ist Figur oder Inkarnation der Offenbarung (Inf. 2, 76 sola per cui l’umana specie eccede ogni contento da quel ciel che ha minor li cerchi sui. – Purg. 6, 45 che lume fia tra il vero e l’intelletto), welche die göttliche Gnade aus Liebe (Inf. 2, 72) dem Menschen sendet, ihn zu retten, und die ihm Führerin zur visio Dei wird. Daß es sich eben um eine Inkarnation der göttlichen Offenbarung handelt, nicht um die Offenbarung schlechthin, das vergißt Mandonnet zu sagen, obgleich er die entsprechenden Stellen aus der Vita Nova und aus Thomas zitiert, dabei auch die oben erwähnte Anrede o Donna di virtù, sola per cui usw. Die «übernatürliche Ordnung» als solche kann man so nicht anreden, sondern nur die inkarnierte Offenbarung derselben, also denjenigen Teil des göttlichen Heilsplans, welcher eben das Wunder ist, durch das die Menschen über alle anderen irdischen Geschöpfe erhoben sind. Beatrice ist Inkarnation, ist figura oder idolo Christi (ihre Augen spiegeln seine Doppelnatur, Purg. 31, 126) und also zugleich auch ein Mensch. Ihr Menschentum ist mit solchen Erklärungen natürlich keineswegs erschöpft; sie steht zu DanteDante in einer Beziehung, die sich durch dogmatische Betrachtungen nicht völlig ausdrücken läßt. Unsere Ausführungen sollen nur zeigen, daß die stets nützliche und unentbehrliche theologische Deutung uns durchaus nicht zwingt, die geschichtliche Wirklichkeit Beatrices aufzugeben – im Gegenteil.

Правообладателям