Читать книгу Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe. Herausgegeben und ergänzt um Aufsätze, Primärbibliographie und Nachwort von Matthias Bormuth und Martin Vialon онлайн

32 страница из 203

Der weitere Ablauf des Liedes zeigt die gleichen Eigentümlichkeiten. Kein Leser oder Hörer könnte aus ihm ein Bild der Lage im Merovingerreich zur Zeit Leodegars oder auch nur eine konkrete Vorstellung von Leodegars Schicksal gewinnen. Was gesagt wird, hat keine Konsistenz. Es ist nicht nur wertlos im Sinne der historischen Kritik; es kann auch nicht vor dem Urteil der nur halbwegs ausgebildeten Lebenserfahrung bestehen; es ist nicht nur praktisch falsch, insofern sich die Dinge nicht so zugetragen haben, sondern auch als Erdichtung sehr schwach, da sich zwischenmenschliche Ereignisse so nicht zutragen können. Eine absolute, durch nichts begründete tückische Grausamkeit kämpft gegen eine ebenso absolute, im Leeren sich bewegende Tugend. Selbstverständlich ist von den sachlichen Gegensätzen zwischen den Feinden nicht die Rede,6 und ebensowenig von den persönlichen Feindschaftsmotiven, die in ihren Temperamenten und in ihrer Vorgeschichte zu finden sein mögen. Davon wußte der Verfasser nichts; das wenige, was bei Ursinus noch durchschimmerte, interessierte ihn nicht. Leodegar ist gut und folgt Gott, Ebroin ist böse und hat sich dem Teufel verschrieben; das genügt ihm. Selbst wirksame und dramatische Auftritte, wie bei Ursinus das Auftreten Leodegars und seines Bruders beim Verhör (cap. X, XI), läßt er fort, wenn es umständlich ist, sie zu begründen und einzufügen. Was er übrig läßt, ist das exemplarische Bild des Märtyrers, und das ist sehr ausdrucksvoll. Das Wichtigste dabei ist die teuflische Marter, die Blendung und Verstümmelung von Zunge und Lippen, mit der Gegenbewegung der göttlichen Gnade; sie macht den Märtyrer innerlich unberührbar, schon bevor das Wunder der Wiedererlangung der Redegabe geschieht. Das ist zu einiger Wirkung gebracht, und hier finden sich sogar Redefiguren. Sie stehen zwar ähnlich schon bei Ursinus, aber besitzen im Lateinischen nicht die gleiche Stoßkraft. Es ist überraschend, wie früh in den uns erhaltenen Dokumenten romanischer Sprache anaphorisch-antithetische IsokolaIsokolon erscheinen. (Sie finden sich auch in der Passion Christi der gleichen Handschrift.) Wenn Ebroin dem Leodegar Zunge und Lippen hat durchschneiden lassen, da ruft er triumphierend:7

Правообладателям