Читать книгу Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe. Herausgegeben und ergänzt um Aufsätze, Primärbibliographie und Nachwort von Matthias Bormuth und Martin Vialon онлайн

59 страница из 203

Gewiß ist paupertas eine AllegorieAllegorie; aber sie wird nicht als solche eingeführt, geschweige denn beschrieben; wir erfahren nichts über ihr Aussehen, nichts über ihr Kleid, wie das sonst bei Allegorien üblich ist; selbst ihren Namen erfahren wir nicht sogleich. Zunächst hören wir nur, daß Franciscus ein Weib gegen die Meinung aller Welt liebt und sich mit ihr vereinigt; ihr Aussehen wird uns nur indirekt, aber um so eindringlicher, dadurch deutlich, daß alle Welt sie flieht wie den Tod und daß sie seit sehr langer Zeit verlassen und verachtet auf einen Liebhaber wartet. Sie spricht auch nicht, wie im Sacrum Commercium, oder wie die Allegorien Mangel, Schuld, Sorge und Not im letzten Akt des zweiten Teils von Goethes Faust; sie ist nur die stumme Geliebte des Heiligen, mit ihm auf noch viel engere und eigentlichere Art verbunden als die Sorge mit Faust. So kommt das Lehrhafte, welches in einer Allegorie liegt, gar nicht als lehrhafte Mitteilung zum Bewußtsein, sondern als wirklicher Vorgang. Als Weib des Franciscus steht die Armut in der konkreten Wirklichkeit; da aber Christus ihr erster Gatte war, so ist die konkrete Wirklichkeit, um die es sich handelt, zugleich Teil eines großen weltgeschichtlichen und dogmatischen Zusammenhangs. Paupertas verbindet Franciscus mit Christus, sie begründet die Stellung des Heiligen als imitator Christi. Unter den drei Motiven, die in unserem Text auf die Nachfolge hinweisen – Sol oriens, mystische Hochzeit, Stigmatisation – ist das zweite, die mystische Hochzeit, insofern das wichtigste, als aus ihm die Begründung für die beiden anderen und für die Stellung Franzens überhaupt herzuleiten ist. Als zweiter Gatte der Armut ist er Nachfolger oder Nachahmer Christi.

Правообладателям