Читать книгу Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe. Herausgegeben und ergänzt um Aufsätze, Primärbibliographie und Nachwort von Matthias Bormuth und Martin Vialon онлайн

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Es wird nun deutlich, daß DanteDante auf keine andere Art das Wesentliche der Gestalt des Heiligen so einfach und unmittelbar darstellen konnte wie durch die mystische Hochzeit mit der Armut, die seine imitatio Christi begründet. Sie erst stellt Franz in den weltgeschichtlichen Zusammenhang, in den er nach DantesDante Anschauung gehört; ein Zusammenhang, der in seiner Zeit noch überaus lebendig war. Für die mittelalterliche Epoche, bis tief in die Neuzeit hinein, war ein bedeutendes Ereignis oder eine bedeutende Gestalt im eigentlichen Sinne «bedeutend»; es bedeutete Erfüllung eines Planes, Erfüllung von etwas Vorausverkündetem, bestätigende Wiederholung von etwas schon Dagewesenem und Ankündigung von etwas einst Kommendem. In der Abhandlung über figurafigura versuche ich darzulegen, wie die sogenannte typologische Deutung des Alten TestamentsAltes Testament, die die Ereignisse desselben als reale Vorankündigungen der Erfüllung im Neuen TestamentNeues Testament, insbesondere also des Erscheinens und des Opfertodes Christi auffaßt, ein neues System der Geschichts- und überhaupt Wirklichkeitsinterpretation geschaffen hat, die das christliche MittelalterMittelalter beherrscht und DanteDante entscheidend beeinflußt hat; die Figuralinterpretation schafft einen Zusammenhang zwischen zwei Geschehnissen, die beide innergeschichtlich sind, in welchem eines von beiden nicht nur sich selbst, sondern auch das andere bedeutet, dies andere dagegen das erste einschließt und erfüllt. In den klassischen Beispielen ist der zweite erfüllende Teil stets Christi Erscheinen und die damit zusammenhängenden Ereignisse, die zur Erlösung und Neugeburt des Menschen führen; und das Ganze ist eine Gesamtdeutung der vorchristlichen Weltgeschichte auf das Erscheinen Christi hin. Die existentielle Nachfolge nun, mit der wir es hier, bei der mystischen Hochzeit des Franciscus mit der Armut zu tun haben, ist gleichsam eine umgekehrte Figur; sie wiederholt gewisse charakteristische Züge des Lebens Christi, erneuert und verleiblicht es vor aller Augen, und erneuert damit zugleich das Amt Christi als eines guten Hirten, dem die Herde folgen müsse. Io fui degli agni della santa greggia che Domenico mena per cammino, sagt Thomas, und Franciscus wird archimandrita genannt. Figur und Nachfolge bilden zusammen eine Versinnbildlichung der geschlossenen teleologischen Geschichtsauffassung, deren Mitte das Erscheinen Christi ist; dieses bildet die Grenze zwischen dem alten und dem neuen Bunde; man erinnere sich, daß die Zahl der Seligen aus beiden Bünden, wie sie in DantesDante weißer Rose des Empireo dargestellt werden, am Ende aller Tage genau gleich sein wird und daß auf der Seite des neuen Bundes nur noch wenige Sitze frei sind – das Weltende steht also nahe bevor. Unter den Heiligen des neuen Bundes aber nimmt Franciscus einen besonderen Platz in der weißen Rose ein, den großen Patriarchen des alten gegenüber, und so wie diese Vordeuter waren, so ist er, der stigmatisierte Gatte der Armut, der hervorragendste unter den späten Nachahmern Christi, dazu bestimmt, die Herde auf den rechten Weg zu lenken, die Braut Christi zu unterstützen, daß sie sicher und treu zu ihrem Geliebten eilen möge.

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