Читать книгу Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe. Herausgegeben und ergänzt um Aufsätze, Primärbibliographie und Nachwort von Matthias Bormuth und Martin Vialon онлайн

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Zu der grotesken und schauerlichen Vorstellung der geschlechtlichen Vereinigung mit einem verachteten Weibe, welches Armut oder Tod heißt und diese Inhalte auch in ihrer Gestalt verwirklicht, gesellt sich hier ein Bild, das für spätere Geschmacksrichtungen bis zur Unerträglichkeit ungehörig gewesen wäre; die fromm-ekstatische Nachfolge der ersten jünger wird dargestellt als liebesdurstige Verfolgung des Weibes eines anderen. Solche Bilder waren im christlichen MittelalterMittelalter, zu Beginn des 14. Jahrhunderts, sicher ebenso eindrucksvoll, wie sie später gewesen wären, aber die Art des Eindrucks war eine andere. Das Leibliche, Intensive und Plastische, welches in Vorstellungen erotischer Art liegt: einem Weibe nachlaufen, sich mit ihr geschlechtlich vereinigen, wurde nicht als ungehörig, sondern, wie in der Deutung des Hohen Liedes, als Versinnbildlichung des Inbrünstigen empfunden. Für späteres Empfinden ist freilich die Verflechtung so verschiedener Bereiche, die Mischung des bis zum Würdelosen Leiblichen mit der höchsten geistigen Würde schwer zu ertragen, und selbst heutzutage, wo man wieder weit eher geneigt ist, auch extreme Formen der StilmischungStilmischung in der modernen Kunst zu bewundern, werden bei einem älteren, allgemein verehrten Dichter wie DanteDante solche Stellen selten in ihrem Inhalt voll ausgeschöpft; meist werden sie nicht bemerkt und überlesen. Noch verkehrter wäre es freilich, wenn man sie im Sinne eines anarchischen Extremismus deuten wollte, wie er sich, oft sehr ehrlich und aus sehr ernsten Ursachen, in unserer Epoche bemerkbar macht; DanteDante ist zwar oft bis zum äußersten «expressionistisch», aber dieser Expressionismus lebt aus einer vielschichtigen Überlieferung und weiß, was er ausdrücken will und soll.

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