Читать книгу Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe. Herausgegeben und ergänzt um Aufsätze, Primärbibliographie und Nachwort von Matthias Bormuth und Martin Vialon онлайн

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Die eigentliche Neuerung und Verwischung des ursprünglichen SinnesSensuslehre, die man zuerst bei VarroVarro trifft, liegt auf dem grammatischen Gebiet; wir deuteten es schon oben an. Bei Varro zuerst finden wir figurafigura als grammatische Bildung, Ableitung, Flexionsform. Figura multitudinis heißt bei ihm die Form des Plurals, alia nomina quinque habent figuras (9, 52) bedeutet: andere Substantiva haben 5 Deklinationsformen. Dieser Gebrauch hat eine bedeutende Wirksamkeit gehabt (vgl. ThLL, figura III A 2 a col. 730 und 2 e col. 734); formaforma ist ebenfalls im gleichen SinneSensuslehre viel verwendet worden, schon seit Varro, es scheint aber figura bei den lateinischen Grammatikern häufiger und beliebter gewesen zu sein. Wie war es möglich, daß beide Worte, zumal figura, das in seiner Wortform noch deutlich an seinen Ursprung erinnerte, so schnell zu rein abstrakter Bedeutung gelangen konnten? Dies geschah durch die Graezisierung der römischen Bildung. Das Griechische, dessen wissenschaftlich-rhetorischer Sprachschatz unvergleichlich reicher war, besaß eine große Anzahl Worte für den Gestaltbegriff: μορφήμορφή, εἶδοςεἶδος, σχῆμασχῆμα, τύποςτύπος, πλάσιςπλάσις, um nur die wichtigsten zu nennen; die philosophische und rhetorische Ausbildung des platonischPlaton-aristotelischen Sprachgebrauchs hatte jedem dieser Worte seinen Bezirk angewiesen und inbesondere zwischen μορφή und εἶδος einerseits, σχῆμα andererseits die Grenze klar bestimmt: μορφή und εἶδος ist die Form oder Idee, die die Materie informiert, σχῆμα die rein sinnliche Gestalt dieser Form; die klassische Belegstelle hierfür ist AristotelesAristoteles’ Metaphysik ζ, 3 p. 1029, wo im Rahmen der Darstellung der οὐσíα die μορφήμορφή als σχῆμα τῆς ἰδέας bezeichnet wird; und so findet sich bei ihm auch σχῆμα rein sinnlich als eine der Qualitätskategorien und die Zusammenstellung von σχῆμα mit μέγεϑοςμέγεϑος, ϰίνησιςϰίνησις und χρῶμαχρῶμα, die wir schon bei VarroVarro antrafen. Es ergab sich von selbst, daß im Lateinischen für μορφή und εἶδοςεἶδος formaforma eintrat, das ja von Haus aus die Modellvorstellung enthielt; gelegentlich findet sich auch exemplarexemplar; für σχῆμασχῆμα hingegen setzte man zumeist figurafigura. Da nun σχῆμασχῆμα als «äußere Gestalt» sich in der griechischen wissenschaftlichen Terminologie weit ausgedehnt hatte – grammatisch, rhetorisch, logisch, mathematisch, astronomisch –, so trat hier im Lateinischen überall figura ein; und so erschien neben und vor der ursprünglichen Bedeutung des Plastischen ein weit allgemeinerer Begriff der sinnlichen Erscheinung und der grammatischen, rhetorischen, logischen, mathematischen Form, ja später auch der musikalischen und choreographischen. Freilich ist die ursprüngliche Bedeutung des Plastischen nicht ganz verlorengegangen, denn auch τύπος «Gepräge» und πλάσιςπλάσις, πλάσμα «plastisches Gebilde» wurden, wie es sich aus dem Stamm fig ergab, oft durch figura wiedergegeben. Aus der Bedeutung τύποςτύπος entwickelte sich figura als «Abdruck des Siegels», was als Metapher eine ehrwürdige Geschichte hat, von AristotelesAristoteles de mem. et rem. p.450 a 31 ἡ κίνησις ἐνσημαίνεται οἷον τύπον τινὰ τοῦ αἱσϑήματος über AugustinAugustinus epist. 162, 4 und IsidorusIsidor v. Sevilla diff: 1, 528 bis zu DanteDante come figura in cera si suggella, Purg. 10, 45 oder Par. 27, 62.4 Über das Plastische hinaus ist τύπος wegen seiner Neigung zum Allgemeinen, Gesetzlichen und Exemplarischen (vgl. die Zusammenstellung mit νομικῶς, Arist. Pol. β 7 p. 1341 b 31) für figurafigura bedeutend geworden, und dies hat wiederum dazu beigetragen, die ohnehin subtile Grenze gegen formaforma zu verwischen. Die Verbindung mit Worten wie πλάσιςπλάσις verstärkte die wahrscheinlich schon von Anfang an bestehende, aber nur langsam sich vorarbeitende Expansionsneigung von figurafigura in der Richtung «Statue», «Bild», «Porträt»; es greift über in das Gebiet von statuastatua, ja von imagoimago, effigieseffigies, speciesspecies, simulacrumsimulacrum. Wenn man also im großen sagen kann, daß figura im lateinischen Sprachgebrauch für σχῆμασχῆμα eintritt, so ist doch damit die Kraft des Wortes, potestas verbi, nicht erschöpft: figura ist weiter, nicht nur zuweilen plastischer, sondern auch beweglicher, stärker ausstrahlend als σχῆμα. Freilich ist auch dieses noch dynamischer als unser Fremdwort «Schema»; heißen doch bei Aristoteles die mimischen Gesten der Menschen, insbesondere der Schauspieler σχῆματα; die Bedeutung der bewegten Form ist σχῆμα keineswegs fremd; aber figura hat dieses Element der Bewegung und Verwandlung sehr viel weiter entwickelt.5

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