Читать книгу Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands онлайн

15 страница из 96

Es geht durch alle Völker und Zeiten ein unabweisbares Gefühl von der Ungenüge des irdischen Daseins und daher das tiefe Bedürfnis, dasselbe an ein Höheres über diesem Leben, das Diesseits an ein Jenseits anzuknüpfen, Vergangenheit und Gegenwart beständig mit der geheimnisvollen Zukunft zu vermitteln. Und dieses Streben, durch welches alle Perfektibilität und der wahre Fortschritt des Menschengeschlechts bedingt wird, ist eben das Wesen der Religion. Wo aber dieses religiöse Gefühl wahrhaft lebendig ist, wird es sich nicht mit müßiger Sehnsucht begnügen, sondern in allen bedeutenderen Erscheinungen des Lebens sich abspiegeln; am entschiedensten in der Poesie, deren Aufgabe, wenngleich auf anderem Gebiet und mit anderen Mitteln, offenbar mit jenem Grundwesen der Religion zusammenfällt, also in ihrem Kern selbst religiös ist.

Und so ist denn auch in der Tat, genau genommen, die Geschichte der poetischen Literatur, dem Kreislaufe des Blutes vom und zum Herzen vergleichbar, eigentlich nichts anderes als das beständig pulsierende Entfernen und wieder Zurückkehren zu jenem religiösen Zentrum. Alle Revolutionen der Poesie sind durch die Religion gemacht worden. Schon im Altertum und namentlich bei dessen poetischstem Volke, den Griechen, ging die Poesie, da der alte Götterglaube, auf dem sie ruhte, verloschen war und philosophisch umgedeutet wurde, von ihrer ursprünglichen strengen Größe zu skeptisch vermittelnder Weltlichkeit, von Äschylus zu Euripides über. Das Christentum sodann, die ganze Weltansicht verwandelnd und wunderbar vertiefend, schuf aus der anarchischen Verwirrung, welche dieser Geisterkatastrophe unmittelbar folgte, an die Stelle der alten Verherrlichung des Endlichen die romantische Poesie des Unendlichen. Späterhin war es abermals der auf demselben Gebiet durch die sogenannte Reformation herbeigeführte Umschwung, welcher unsere Poesie in eine völlig veränderte Bahn mit sich fortriß; und noch in neuester Zeit entstand aus der religiösen Reaktion gegen den Unglauben einer flachen Aufklärung die moderne Romantik, die noch bis heut nicht ganz verklungen ist.

Правообладателям