Читать книгу Die Tyrannei des Geldes. Henri-Frédéric Amiel über Besitz und Bürgertum онлайн

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Auch in Amiels Beziehung zu den jungen Frauen seines Kreises zeigte sich eine deutliche Fehlhaltung. Anmutige und gescheite Töchter voller Herzensbildung wurden ihm vorgestellt; sie schieden aus, eine nach der anderen. Sara Cherbuliez, die Tochter eines Dozentenkollegen, hat «tieffarbene meergrüne Augen» und errötet sichtlich, wenn er sich zur Runde im Salon gesellt. Ein reizendes Mädchen, ein grundsolides, gebildetes und sympathisches Milieu ... aber: keine Mitgift! Die Pfarrerstochter Henriette Vaucher zeigt «liebenswerte Ehrlichkeit und bescheidene Güte», ist hübsch und vermögend ... aber: zahlreiche Gebrechen im Familienkreis, beunruhigende Erbanlagen! Im April 1858, nach zahlreichen Bekanntschaften, muss Amiel gestehen: «Ich bin praktisch unverheiratbar (in-mariable), weil ich eine ungeheure Abneigung gegen den Zufall hege.»

Weshalb sollten wir uns befassen mit diesem wenig überzeugenden Dozenten und erfolglosen Poeten? Es war gerade die unbehagliche Stellung zwischen zwei Welten, die aus dem nach aussen hin so umgänglichen Junggesellen einen rabiaten Skeptiker und scharfen Beobachter seiner Umgebung machte, aber auch einen ewigen Zweifler und Zauderer. Ein grösseres kulturgeschichtliches oder philosophisches Werk, wie Amiel es zeitlebens von sich selbst verlangte, gelang ihm nicht. Dafür waren die Selbstzweifel zu mächtig, verschlang die Vorbereitung der Vorlesungen zu viel Zeit und Energie. Kam hinzu, dass er schon vor seiner Rückkehr nach Genf und erst recht von da an die Gewohnheit angenommen hatte, am Abend jedes Tages seine Eindrücke und Überlegungen schriftlich festzuhalten. Obwohl er sich selbst verdächtigte, in dieser Routine «einen Ersatz für das Leben zu suchen» und seine schöpferische Kraft in einen Nebenkanal abzuleiten, hielt er bis kurz vor seinem Tod an den täglichen Einträgen fest. Den Erben fiel ein Konvolut von 170 Heften zu, insgesamt 16’900 dicht beschriebene Seiten. Sie deckten die drei Jahrzehnte von der Jahrhundertmitte bis zu Amiels Tod praktisch lückenlos ab. Amiel selbst hatte die Papiere sorgfältig in Schachteln aufbewahrt, sie nummeriert und datiert und die Titelseiten mit Merksprüchen und Versen versehen. Bemerkungen und Verweise in den Seitenspalten zeugen davon, dass der Autor sein Journal intime immer wieder durchging, in den alten Heften blätterte, auch wenn er sich selbst oft dafür schalt, «ein Leben im Rückwärtsgehen» zu verbringen.

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