Читать книгу Die Stimme des Atems. Wörterbuch einer Kindheit онлайн
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Als wir in der 5. Klasse der Sprache grammatikalisch zu Leibe rücken, halte ichʼs für unnötig, Konjugation von Deklination zu unterscheiden, überhaupt Grammatik zu lernen. Als Raumer mich auffordert, die vier Fälle des Wortes «der Mann» herzusagen, bleibe ich stumm. Um so prompter schnarrt meine Nachbarin über dem Mittelgang, Rosmarie mit den roten Haarmaschen, «der Mann, des Mannes, dem Manne, den Mann» herunter. Raumer ist beglückt: Das kommt ja wie aus der Kanone geschossen! Und er macht Rosmarie schwache Hoffnung, vielleicht, wenn sie sich von nun an ins Zeug lege wie ein Ackergaul und ihr Schwatzwerk ausschliesslich für Antworten auf die Fragen des Lehrers in Gang setze, doch noch mit knapper Not in die Bezirksschule zu rutschen. Es gibt also eine Grammatik, welche die lebendige Rede in ihren Netzen fängt und sie darin zappeln lässt wie den Fisch im Netz und Richtig von Falsch scheidet. Absurd.
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Liedgut
Unser Gesangsunterricht begann mit «Alle Vögel sind schon da» und dem Kanon «Bruder Jakob», bei dem ich vor Angst, aus dem Takt zu fallen, den Anschluss verpasste. Er setzte sich etwas später fort mit «Lustig ist das Zigeunerleben, trarira», gewann Erhabenheit mit «Der Du die Himmel hältst in Deinen Händen», einem der zahlreichen Versuche, den allzu anspruchsvollen «Schweizerpsalm» resp. «Rufst du, mein Vaterland» als Nationalhymne abzulösen; offenbar sollte dessen Gesangstauglichkeit fürs Volk an uns Schülern getestet werden, auch wollte man uns wohl das Schicksal ersparen, «Froh noch im Todesstreich» zu enden. Nun steigerte die Musikpädagogik sich zum Sempacherlied «Lasst hören aus alter Zeit/von kühner Ahnen Heldenstreit,/von Speerwucht und wildem Schwertkampf,/von Schlachtstaub und heissem Blutdampf». Das Nazilied «Wir sind die jungen Schweizer,/gar heiss ist unser Blut», hatte die Tugend, mir endlich und für immer den Mund zuzusperren – aus Scham und Ekel.