Читать книгу Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991 онлайн

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Mitte der dreißiger Jahre stand Frisch erneut vor einer Wegscheide. Wollte er die journalistische Brotschreiberei aufgeben, so standen ihm prinzipiell zwei Wege offen: Entweder er setzte alles auf die Karte der Kunst und versuchte, sich als Berufsschriftsteller durchzusetzen. Oder er erwarb einen bürgerlichen Beruf zur Sicherung des Lebensunterhalts und betrieb die Schriftstellerei nebenbei.

Bevor er diese Entscheidung traf, spielte er sie auch dieses Mal in einem großen Text, der »Erzählung aus den Bergen« mit dem Titel Antwort aus der Stille, literarisch durch.112 In Jürg Reinhart hatte er die Möglichkeit der Selbstverwirklichung als Künstler beschrieben und sie dann zu leben versucht. Im neuen Text erkundete er den Weg zur künftigen Existenz als Bürger. Der Protagonist Dr. Leuthold (den Leuten hold) ist die Gegenfigur zum reinen, harten Reinhart. Er ist dreißig, promovierter Lehrer (der typische Karriereberuf des Schweizer Intellektuellen aus kleinen Verhältnissen) und natürlich Leutnant der schweizerischen Milizarmee. Er ist verlobt und steht kurz vor der Hochzeit. Die Auspizien für eine gutbürgerliche Existenz stehen gut. Doch Leutholds Selbstempfinden widerspricht dieser Lebensperspektive. Er giert nach dem Besonderen, dem Höheren, dem Unkonventionellen. Vierzehn Tage vor der Hochzeit – sozusagen in Torschlußpanik – wagt er den letzten, verzweifelten Versuch, der scheinbar unentrinnbaren bürgerlichen Konvention zu entkommen. »Es ist sein letzter Versuch, wozu er aufgebrochen ist … Einmal muß man sein jugendliches Hoffen einlösen, wenn es nicht lächerlich werden soll, einlösen durch die männliche Tat …«113 Die männliche Tat um »Sein oder Nichtsein« besteht diesmal weder im Geschlechtsakt noch im Akt der Sterbehilfe, sondern in einer lebensgefährlichen Besteigung des noch unbezwungenen »Nordgrats«. Nordwand-Erstbesteigungen waren, dank neuer Klettertechniken, zwischen 1931 und 1938 in Mode: 1931 wurde erstmals die Nordwand des Matterhorns bezwungen, 1935 die Grandes Jorasses, 1938 schließlich die Eigernordwand, die lange als unpassierbar gegolten hatte. Frischs thematischer Hintergrund lag also ganz im Trend der Zeit.