Читать книгу Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991 онлайн
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Wer die gesellschaftliche Dimension menschlicher Selbstverwirklichung im Auge hat, mag in einer Bergkraxelei kaum eine Schicksalstat erkennen. Doch genau diese gesellschaftliche Dimension blendete Frisch, wie schon im Jürg Reinhart, auch diesmal aus: Nicht durch Bewährung im sozialen Leben, sondern im Einzelkampf mit sich und der Natur besteht die Herausforderung des »Schicksals«; nur in der außersozialen Ausnahmesituation reift der Mann.114
Der Plot ist auch diesmal einfach gebaut. Im Berggasthaus lernt Leuthold Irene kennen, eine junge Dänin. Ihr vertraut er seinen Plan an. Sie übernimmt an Leuthold eine ähnliche Funktion wie Inge an Reinhart. Sie lehrt ihn in langen Gesprächen, seine bürgerliche Existenz, aber auch seine Sehnsucht nach dem Außergewöhnlichen, mithin die Gespaltenheit seines Ichs, zu akzeptieren. Er träumt sich mit Irene in ein Land »ohne Alltag« und flieht auf den Flügeln der neuen Liebe in die Wunschgefilde eines außer-gewöhnlichen, eines erfüllten Lebens. Aber der Traum bricht vor der körperlichen Besiegelung jäh zusammen: Irene gesteht, mit einem kranken Mann verheiratet zu sein. Die bürgerliche Normalität hat den Ausreißer wieder eingeholt, die Flucht auf die romantische Insel ist gescheitert, die Konvention triumphiert. Also bleibt nur die Nordgratbesteigung, um der »Lächerlichkeit« und »Gewöhnlichkeit« zu entkommen.115 Leuthold überlebt das Bergabenteuer. Aber er kehrt nicht als Held, sondern als ein Geläuterter zurück, der angesichts des Todes erfahren hat, »daß es kein gewöhnliches Leben gibt, kein verächtliches Leben, das einfach wegzuwerfen wäre, und daß wohl alles genug ist, was wir wirklich erfüllen«.116 Die quälend empfundenen Zwänge eines normalen bürgerlichen Lebens verschwinden vollständig hinter der Dankbarkeit, überhaupt zu leben. Wenn es um »Sein oder Nichtsein« geht, wird die Frage nach dem »Wie-Sein« belanglos. Das große Problem der Integration in eine als lebenstötend empfundene Gesellschaft reduziert sich unter diesem Blickwinkel auf den persönlichen Reifeprozeß, auf die Bescheidung in den Alltag, auf die Annahme des ›Schicksals‹. Damit sind die normsprengenden Lebensansprüche aus Was bin ich? und aus Jürg Reinhart aufgegeben. Frisch selbst hat sich in einer literarischen Entlastungshandlung seinen Einstieg in die bürgerliche Gesellschaft freigeschrieben.