Читать книгу Fern von hier. Sämtliche Erzählungen онлайн
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Dann hatte sich noch etwas ereignet, das Luzia aufwühlte; sie war der Meinung gewesen, sie habe ihre Mutter nie geliebt. Gestern las sie in einem ihrer alten Aufsatzhefte, als Zehnjährige hatte sie dort unter dem Titel: «Meine liebe Mutter» erzählt, wie die Mutter mit der kleinen Luzia Tierchen und Männchen aus Kastanien gebastelt, ihr vorgelesen und für sie gar Spiele erfunden hatte; an all dies hatte sie sich nun als Vierzehnjährige nicht mehr erinnert; erst beim Lesen des Aufsatzes waren Bilder wie vom Ende des Himmels zu ihr gekommen, um sich wieder in ihr niederzulassen. War es möglich, dass sie viel später auch nicht mehr wusste, wie sie den Vater jetzt liebte? Luzia mochte Erinnerungen nicht; sie waren imstande, Schönes hässlich und Hässliches schön zu machen. Eigentlich wäre es ganz gut zu sterben, dachte sie, wenn noch keine neuen Bilder die alten zu stark verfälschen konnten; aber die Bilder durfte man ja nicht mitnehmen, wie man auch sich selber nicht mitnahm: Man blieb, auch als Erinnerung, die durch spätere Erlebnisse der Hinterbliebenen verändert werden konnte, in den Menschen zurück, die einen gekannt hatten. Und wenn sie über einen zu andern Menschen, die man nicht gekannt hatte, redeten, wurde das Bild des armen Toten, der man nun war, wieder anders; so veränderte man sich ständig, lebte weiter als Splitter in immer mehr Menschen, bis die Splitter kleiner und kleiner und sich so fremd wurden, dass sie sich selber nicht mehr entsinnen konnten, von welchem teuren Toten sie abstammten. Luzia seufzte. Bald würde Regine kommen, Vaters Schwester, die den Haushalt besorgte. Sie würde vor der Tür den Schnee vom Mantel klopfen, über Rheuma jammern und Milchkaffee kochen. Sie sah aus wie eine ständig schwangere Frau; Luzia konnte ihr aufgedunsenes, fleckiges Gesicht und die Art, wie sie sich mit gespreizten Beinen hinsetzte, nicht leiden. Luzia hatte einen Cousin, der erklärt hatte, er müsse erbrechen, wenn er Leute wie Regine sähe. Luzia war von ihm sehr beeindruckt, aber er war ein armer Junge, der von seinen Eltern oft geschlagen wurde. Er schrieb Gedichte, die niemand verstand, auch Luzia nicht.