Читать книгу Ein Bruder lebenslänglich. Vom Leben mit einem behinderten Geschwister онлайн

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Die ersten beiden Lebensjahre

Ich freute mich über mein kleines Brüderlein. Ich war nun nicht mehr allein, wenn meine älteren Schwestern in der Schule waren. Es konnte so herzig lächeln mit seinen Grübchen, und mit seinen himmelblauen Augen strahlte es mich an! Neben meiner Grossmutter, welche voller Stolz mit ihrem Enkel unterwegs war, nahm ich – die um drei Jahre ältere Schwester – meinen kleinen Bruder schon bald in Obhut. Ich verstand seine Kindersprache und versuchte, seine Wünsche zu erfüllen. «Biip, biip», sagte er, wenn wir ein Vögelchen sahen. «Biip, biip» galt jedoch auch dem Milchmann und seinem Pferd, da der Milchmann jeweils mit einem Pfiff seine Anwesenheit im Quartier ankündete und die Hausfrauen mit ihren Milchkesseln aus den Häusern lockte. Mit «Lellelle» bezeichnete der Bruder unsere Grossmutter. «Lellelle» benannte er jedoch auch die Kirche. Kann sein, weil Grossmama ihn oft in die Kirche mitnahm. Ich interpretierte sein «Lellelle» als seinen Wunsch, in die Kirche zu gehen. So nahm ich ihn eines Tages bei der Hand, und wir beide machten uns zusammen auf den Weg zur nächstgelegenen Kirche, er war zwei, ich noch nicht ganz fünf Jahre alt. Wir gingen mehrmals hin und warteten, bis jemand zum Beten kam, da ich die schwere Kirchentüre nicht allein zu öffnen vermochte. Manchmal war mein kleiner Bruder krank und hatte hohes Fieber. Dann wollte er seine Ruhe ­haben. Es störte ihn, wenn wir etwas lauter waren beim Spielen. «Mama psst», flüsterte er dann und machte ein Zeichen, dass wir aufhören sollten. «Angina», sagte jeweils der herbeigerufene Kinder­arzt. Er war ein sehr gross gewachsener Mann, der den Kopf an unserer Deckenlampe anschlug, was wir Kinder sehr lustig fanden. Wir mochten ihn gern. Er war für uns ein beliebtes Zeichnungssujet, und er nahm unsere Zeichnungen immer sehr wohlwollend entgegen und quittierte unsere Erklärungen mit Humor. Wir hielten den Atem an, wenn er mit der Penicillin-Spritze am Bettrand stand. «Es chonnt es Müggli übers Brüggli und jetzt …», und bevor wir reagieren konnten, hatte er bereits zugestochen.

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