Читать книгу Lochhansi oder Wie man böse Buben macht. Eine Kindheit aus der Innerschweiz онлайн
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Grossvater schenkte den beiden das Bildnis von Sankt Kümmernis, es war die Darstellung einer gekrönten gekreuzigten Figur, angetan mit einem blauen Gewand, besät mit goldenen Sternen. Das Kunstwerk war aus Wachs gefertigt und mit einer echten Reliquie versehen, gekräuseltes Barthaar in einer Kapsel, bedeckt von einer gewölbten Glasplatte, das Ganze in einen reichverzierten Goldrahmen gefasst. Wie Ätti zu erzählen wusste, war St. Kümmernis eine Königstochter aus Lusitanien, die auf ihr Bitten von Gott mit Bartwuchs augestattet wurde, sodass sie in ein Männerkloster eintreten konnte und dort ihr ganzes Leben lang Gutes tat. Als sarazenische Räuber das Kloster überfielen, kreuzigten sie alle Mönche. Die Blutzeugen wurden, als die Übeltäter verschwunden waren, von den überlebenden Dorfbewohnern vom Kreuz abgenommen und feierlich bestattet. Beim Waschen und Zurichten der Leichen wurde dann die Identität der heiligen Märtyrerin entdeckt und in der Folge vom Volk als St. Kümmernis verehrt. Das eigenartige Bild der gekreuzigten, bärtigen Frau hing dann noch jahrelang in einer Ecke im Schlafzimmer meiner Eltern. Ich durfte dort nicht hin, dieses Zimmer war für mich verbotenes Terrain. Doch kam es manchmal vor, wenn ich allein zu Hause war, dass ich hineinschlüpfte und dann voll Staunen diese bunte, barocke Darstellung betrachtete, mit Andacht, Furcht und leichtem Schaudern. Eines Tages ertappte mich meine Mutter dabei, und dann war das Bild weg, ich habe es nie mehr gesehen.