Читать книгу Sittes Welt. Willi Sitte: Die Retrospektive онлайн

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Diese Konsequenz zog Willi Sitte, trotz seiner Enttäuschung über das Scheitern der Reformpolitik, gerade nicht. Er ließ sich auch nicht durch die auf das 11. Plenum folgenden Ereignisse, wie den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten 1968 in Prag und 1976 die Ausbürgerung Wolf Biermanns, mit dem Sitte bis 1965 befreundet war, in seiner Parteitreue beirren. In einem Artikel des Neuen Deutschland rechtfertigte er jetzt den Entzug von Biermanns Staatsbürgerschaft, wie ihn das NS-Regime gegen Künstler, Intellektuelle und Juden vollstreckt hatte.91 Sitte konnte oder wollte die Dimensionen einer „totalitären Diktatur“, welche die SED von der stalinistisch geprägten Sowjetunion übernommen hatte, nicht erkennen.92 Václav Havels (1936–2011) Analyse des totalitären Systems, Versuch, in der Wahrheit zu leben (1978), hatte, außer in Kreisen der politischen Dissidenz, in der DDR keine Breitenwirkung.93


Sittes wachsende Zweifel an der ökonomischen Überlegenheit der DDR lassen sich aber in seiner Kunst ablesen. Die Malerei kann den inneren Konflikt nicht verbergen, sie bekommt schon ab Mitte der 1960er Jahre erste Risse, franst und leiert aus, verliert ihre scharfen, prägnanten Konturen. Die Formate werden immer größer, weil sie den abnehmenden Glauben durch auftrumpfende Gestik, Pathos und strotzende Leiber im Stil von Rubens und dem späten Corinth kompensieren müssen. Auf die Renaissance schlanker Formen, eleganter Gesten und intimer Szenen des Alltags folgt der trotzige Gestus eines zwanghaften sozialistischen Barocks, eines Stils der Gegenreformation von Honeckers Gnaden zu Ulbrichts marktwirtschaftlichen und technokratischen Reformversuchen.

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