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Vor dem Mietshaus erscheint um eine bestimmte Zeit die Frau aus San Fermo. Sie führt Selbstgespräche und bewegt ständig den Mund, als kaute sie. Sie wirkt wie ein schmächtiges Mädchen, hat aber das Gesicht einer Alten und die Augen eines Menschen, der viel Elend durchgemacht hat. Jeden Tag geht sie über die Grenze und kommt in die Svissera, um Fussböden zu putzen. Die Wachen kennt sie alle. Die italienischen Wachen nennt sie die mocassina. Sie trägt einen geschenkten Mantel und hat nie heiraten wollen, obwohl sich ihr mehrere Gelegenheiten boten: Einmal hat sich sogar ein distinguierter Herr um sie bemüht, ein Helvetier mit Bankkonto. Das «a» von Bank spricht sie mit verkniffenem Mund aus, ein unzufriedenes «a», das gern ein «o» wäre.

Die Frau, die beschlossen hat, nicht zu altern, schaut vom Fenster aus der Pförtnerin beim Hacken zu, schaut der Frau aus San Fermo zu, die mit einem kartoffelschalenfarbenen Gesicht hierhin und dorthin hüpft und in einem Winkel einen grossen Karton mit Lumpen aufbewahrt, aus dem man manchmal noch etwas Nützliches herausfischen kann. Dann lässt sie den Vorhang sinken und macht sich zum Ausgehen fertig. Sie zieht die hochhackigen Schuhe an. Das Gesicht ist mit einer Schicht Make-up bedeckt. Sie erinnert sich an die Zeit, als sie noch jünger war – denn man kann nicht sagen, dass sie jetzt alt wäre – und den Tessiner Barbier kennen lernte, der ihr Mann werden sollte. Damals arbeitete sie als Verkäuferin in einem Stoffgeschäft in der Zentralschweiz, es gefiel ihr, alle Stoffe ordentlich in den Regalen gestapelt zu sehen und das gelbe Plastikmassband um den Hals zu tragen. Der Barbier begehrte sie, an der Schwelle jenes Ladens am Fuss der Berge. Er bewunderte sie in ihren eng anliegenden Kostümen. Bis er dann eines Tages seinen Mut zusammengenommen und ihr eine Puderdose mit Quaste geschenkt hatte.

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