Читать книгу Meine weisse Stadt und ich. Das Bernbuch онлайн

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Doch während ich mich mit der Zeit an das Wort Neger gewöhnte – etwas anderes blieb mir nicht übrig, weil man es überall in Europa benutzt –, lernte ich, nicht mehr zusammenzuzucken, wenn ich es in feiner Gesellschaft oder aus dem Mund unschuldiger oder liebenswürdiger alter Damen hörte, mit denen ich mich angefreundet hatte. Ich betrachtete es etwas häufiger als einen neutralen Begriff wie «Apfel», «Tuberkulose» oder «Charlie» und wusste, dass es lediglich «schwarz» bedeutete und kaum etwas anderes und dass selbst dieses «kaum etwas anderes» eine andere Qualität und Quantität besaß als das «kaum etwas anderes», an das ich gewöhnt war.

Es war so, als verließe man eine Welt, in der es immer Tag ist, und betrete plötzlich eine andere, in der es immer Nacht ist oder zumindest eine, in der der Abend besonders hell ist, ein Abend, der sich vom Tag unterscheiden lässt, mit einem Hauch von Abenddämmerung oder Morgengrauen durchsetzt … Doch später, als meine Augen sich an das neue Licht gewöhnt hatten, wurde mir allmählich bewusst, dass das, was ich zuvor für zwei verschiedene Welten gehalten hatte, in Wirklichkeit eine Welt war, dieselbe Welt, nur von einem anderen Standpunkt aus gesehen. Wir alle haben irgendwann diese Erfahrung gemacht – nicht wahr? –, wenn wir beim Be­trachten einer Weltkarte plötzlich intuitiv erahnen, dass die verschiedenen Formen, die die Kontinente verbinden, wie Teile eines Bildes aussehen, das, wenn man es wieder zusammensetzen könnte, ein Ganzes, eine Kugel bilden würde, so wie wir sie immer sehen, wenn wir Geografie und Astronomie studieren. Ich staunte, dass man oft so lange braucht, um das Offensichtliche zu erkennen, es wirklich zu begreifen: dass die Welt eine Ganzheit ist, zum Beispiel, der Tag die Nacht ist und die Nacht der Tag! Ferner bemerkte ich mit einer Ehrfurcht, an der es mir gelegentlich mangelt, dass bestimmte, sehr seltene Menschen bei überraschend seltenen Gelegenheiten imstande waren, diesen fehlenden Unterschied zwischen scheinbar ungleichen Dingen wahrzunehmen, etwa dem, was sie befähigt, Dinge zu tun, die wir als Wunder bezeichnen: über Wasser zu gehen, als wäre es feste Erde, «Tote» zum Leben zu erwecken oder ein ganzes Universum auf eine Leinwand zu bannen. Sie versuchen, uns zu erzählen, was sie sehen, uns den Frieden nahezubringen, den ihre Perspektive ihnen bietet, sie verraten uns sogar, auf welchem Weg sie diese Höhe erreicht haben, aber wir verstehen sie nur selten, und ebenso selten wissen wir ihre Bemühungen zu schätzen … Doch das soll vermutlich auch so sein, denn wir können nur das sehen, was wir tatsächlich sehen, nur das hören, was wir tatsächlich hören, selbst wenn die Bilder und Klänge in den Höhlen unseres Bewusstseins bloß Luftspiegelungen und Echos sind.

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