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Das Gefängnissystem als grosses Projekt der sozialen Orthopädie. Gefängnisse waren nicht einfach «als Depot für Kriminelle» geplant, sondern man glaubte Anfang des 19. Jahrhunderts ehrlich und wirklich an eine Besserung und deshalb neue ökonomische Verwendbarkeit der Delinquenten. Und doch war der Misserfolg «fast so alt wie das Projekt», sagt Foucault. «Man konstatierte seit 1320, dass die Gefängnisse nur neue Kriminelle produzieren, anstatt die alten zu korrigieren, oder dass sie die Kriminellen nur noch weiter kriminalisierten. Und da hat, wie immer in den Machtmechanismen, eine strategische Verwendung dieser ursprünglich als negativ empfundenen Tatsache stattgefunden. Man hat gemerkt, dass die Kriminellen nützlich sein können, im ökonomischen wie im politischen Bereich. Zum Beispiel kann man dank ihnen Profit machen mit der Ausbeutung der sexuellen Lust: Jetzt wird, im 19. Jahrhundert, das grosse Gebäude der Prostitution errichtet, und das war nur möglich dank den Kriminellen (Zuhälter usw.), welche ein Scharnier wurden zwischen der teuren täglichen sexuellen Lust und ihrer Kapitalisation.» (In Marseille z.B. spielt das von der Polizei genau kontrollierte korsische Gaunermilieu eine wichtige politökonomische Rolle: als Detailhändler von Heroin, als Zuhälter und als Schlägertrupps für die Regierungspartei.) «Wie jedermann weiss, hat Napoleon die Macht ergriffen dank einer Gruppe von Kriminellen. (Auch Giscard hat seine Wahlkampagne teilweise mit Kriminellen bestritten.) Und wenn man sieht, wie sehr die Arbeiter die Kriminellen immer gehasst haben, dann begreift man, dass diese gegen die Arbeiter eingesetzt wurden, in den politischen und sozialen Kämpfen, als Streikbrecher, Schlägerbanden, Spitzel usw. Das Gefängnis wurde zum grossen Rekrutierungsinstrument. Das Gefängnis professionalisierte die Kriminellen. Wenn einer entlassen wurde, war er infam und geächtet, er konnte nichts anderes tun als wieder delinquieren, und das System machte notwendigerweise einen Polizisten, einen Zuhälter oder einen Spitzel aus ihm. Anstatt wie im 18. Jahrhundert, wo nomadisierende Räuberbanden mit oft grosser Wildheit über Land zogen, hatte man jetzt dieses ganz abgeschlossene Delinquentenmilieu, von Polizeispitzeln durchsetzt, ein wesentlich städtisches Milieu.» Zur gleichen Zeit beginnen die Kriminalromane zu florieren und die Ausschlachtung von «Unglücksfällen und Verbrechen»; die Untaten müssen dem Volk möglichst drastisch vor Augen geführt werden, um die arbeitsamen Leute ganz scharf vom Delinquentenmilieu abzugrenzen und um den Armen zu erklären, dass die Verbrecher auch für sie und nicht nur für die Reichen gefährlich sind.

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