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Enttäuschung

Ich weiß nicht, ob es leidenschaftliche oder zu wenig leidenschaftliche Naturen sind, die nie eine Sonnenbrille, beim Nähen keinen Fingerhut und zum Geschirrwaschen keine Gummihandschuhe tragen; was andere Menschen nötig finden, um Augen, Fingerspitzen oder Hände zu schonen, war Agnes ärgerlich, muss sie als eine lästige Wand zwischen der Wirklichkeit, zwischen dem Leben und ihrem Ich, dem Erfühlen dieses Lebens empfunden haben. Sie war meine Patin; ich war nach ihr getauft worden und verbrachte, nachdem man mich von meiner liederlichen Mutter weggenommen hatte, deren uneheliches Kind ich war, ein halbes Jahr bei ihr; nachdem sie aber schwer erkrankt war, wurde ich in ein erstes, zweites und drittes Heim gesteckt. In jedem fühlte ich mich wie eines von fünfzig oder hundert Schaumkrönchen, die von den Leiterinnen umher- oder weggeblasen werden konnten. Dass es Wellen gab und Tiefe, ahnte ich, und dass es Schiffe gab, die stampfend und Aufruhr bringend über einen hinwegfahren konnten, wusste ich, seit mein Onkel Raymond nach Tante Agnes’ Tod mich aus dem Heim holte; ich war nun dreizehn Jahre alt. Riesengroß stand er vor mir, überragte er mich bei Tisch, wo er laut vorbetete, warf er Schatten, als ob er Läden hinter sich geschlossen hätte, um das Sonnenlicht für immer von mir fernzuhalten. Hinter den Läden klopften die vielen Bäume wie Stiefel ums Haus. Ich hatte keine Freundinnen, auch keine Puppe; ganz allein war ich von Heim zu Heim gewandert, unansehnlich wie ein Gepäckstück in meinen fremden, abgetragenen Kleidern, und dass Onkel Raymond – der Mann meiner verstorbenen Tante Agnes, dieser wortkargen, kränklichen Frau, die aber mit den Augen gewärmt und deren Stimme wie ein Feuerchen geknistert hatte – mich zu sich sperrte, wurde mir von der Leiterin des letzten Heims als Glücksfall geschildert. Ich galt als bockiges, unzugängliches, verträumtes und faules Kind. Es war das erste Mal, dass sie zu mir allein redete, dass ich mich nicht als ein Teilchen einer Kindergruppe fühlte, nicht als eine in der Fabrik verfertigte Puppe, die ebenso langweilig wie alle andern aussah, die wartete und wie im Traum Befehle hörte, die allen galten: Hände waschen, Zähne putzen, Schulaufgaben lösen, beten, zu Bett gehen. Nein, nun war ich ein Einzelstück, sozusagen eine selbstverfertigte Puppe aus einer Boutique; ich erinnere mich, dass ich mir mit einem Brennen im Herzen wünschte, die Leiterin möge beachten, dass das eine meiner Augen heller war als das andere und dass meine Mundwinkel, obwohl ich ein langgezogenes, trauriges Gesicht hatte, sich leicht nach oben bogen. Ich stellte mir auch vor, sie würde mir etwas erzählen oder erklären, was ich schon lange gerne gewusst hätte: Weshalb es Wellen gab und wie es in der grauen Tiefe aussah, von der man glauben konnte, sie sei gestorben, so still schien sie, und ob ich mich als Teil dieser Tiefe betrachten durfte oder ob ich nur aus Schaum mit ein bisschen spitzem Licht bestand; ja, das Licht war spitz und tat weh, aber die Dunkelheit, in der Onkel Raymond mich verstecken wollte, erhoffte ich mir rund und weich.

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