Читать книгу Ein Bruder lebenslänglich. Vom Leben mit einem behinderten Geschwister онлайн

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«Ich selbst verteile die Rollen

Nach eines jeglichen Natur und Richtung. (…)

Und nun ans Werk! Derweilen ich dirigiere,

Sei du die Bühne und der Mensch agiere.»

Pedro Calderon, Das grosse Welttheater

«Ich habe das nicht gesucht, nehme nur ­meine Verantwortung als Schwester wahr …»

Auch ich könnte mit diesen Worten ­meine Geschichte als Schwester eines behinderten Bruders beginnen.

Frühe Kindheit 1950–1959

Meine frühesten Erinnerungen

Die Pilgerreise nach Rom

Ein Sonnenstrahl fällt durch das vergitterte Fenster. Moosgrüne Wände, ein säuerlich muffiger Geruch, das Ablaufrohr entlang krabbelt eine dünnbeinige Spinne. Ängstlich kauere ich auf dem feuchtklebrigen Linoleumboden. Ich habe aufgehört zu weinen. Es ist plötzlich ganz still, nur die Wasserspülung plätschert leise. Da dreht sich der Schlüssel, und Tante Gret steckt ihren Kopf durch den Türspalt: «Willst du nun brav sein?» Sie öffnet die Toilettentür und schickt mich nach oben, meine inzwischen kalt gewordene Milch auszutrinken.

Ich klammere mich an das Treppengeländer und klettere leise schluchzend die knarrenden Stufen hoch. Oben erwartet mich Maria. Die abgestandene Milch hat eine dünne Haut gebildet, die eklig am Tassenrand klebt. Maria wäscht mir das tränenverschmierte Gesicht, putzt mir die Milchpelle von den Mundwinkeln, kämmt mir die zerzausten Haarsträhnen aus dem Gesicht. «Und kämmt sie mir das Haar, so rupft sie mir ein paar – aber du lieb Mütterlein du, bandest noch bunte Schleifen dazu …»

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