Читать книгу Ein Bruder lebenslänglich. Vom Leben mit einem behinderten Geschwister онлайн

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Ich mag Marias Lied, seinen Inhalt begreife ich erst später. Es ist das Lied eines kleinen Mädchens, welches am Grab seiner Mutter über seine Stiefmutter klagt.

Ich schlucke meine Tränen runter, damit ich nicht wieder zu weinen beginne. Mama und Papa sind weg. Mich haben sie hiergelassen. Meine beiden älteren Schwestern sind auch nicht da. Sie sind in die Schule verschwunden.

Ich sehe diese Bilder deutlich vor mir, spüre die Wut im Bauch aufsteigen und ein dumpfes Gefühl von Hilflosigkeit und Traurigkeit beschleicht mich noch immer. Ob ich mich wirklich noch erinnern kann? Ich war damals zwei Jahre alt. Glaube ich nur, mich daran zu erinnern, da man mir das später so erzählt hat? Autobiografische Erinnerungen setzen erst ab dem dritten Lebensjahr oder noch später ein, sagt die Forschung.

Es ist Sonntagnachmittag. Ich schiebe Tante Gret im Rollstuhl durch den Park des Pflegeheims. Sie ist inzwischen hundertzwei Jahre alt.

«Wenn man auch früher strenger war mit den Kindern, so hat das ihnen nicht geschadet», ist sie der festen Überzeugung. «Als deine Eltern damals nach Rom verreisten, bist du ihnen nachgelaufen und hast so gezwängelt, dass ich dich packte und in die Toilette einschloss. Ich sagte dir, dass du erst wieder rauskommen dürftest, wenn du aufgehört hast zu heulen. – Du hast nachher nie mehr nach deiner Mutter gefragt.» Es scheint mir, als ob ich einen kleinen Triumph in ihrer Stimme höre – ein Triumph, dass ich nicht mehr nach meiner Mutter fragte?

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