Читать книгу Die Brille des Nissim Nachtgeist. Roman. Die Emigrantenpension Comi in Zürich 1921-1942 онлайн
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Die Reise war lang gewesen, ich hatte nur wenig geschlafen. Hatte ich die Augen geschlossen, wollte es mich anfallartig erdrücken. Ich schaute auf die Leute. Im Koffer musste noch ein Stück Brot sein. «Wenn du es isst, wird es Hasenbrot sein, dann bist du schon weit von uns fort», hatte die Mutter gesagt und mit erstickter Stimme hinzugefügt: «Verfluchen werde ich diesen Menschenjäger.» Ihr Weinen hinter der Brille, die ihre Augen immer vergrösserte, war wie ein Regen im Zimmer gewesen. Bevor ich um die Strassenecke bog, hatte ich noch einmal zurückgeschaut, starr war sie am Fenster gestanden, die Hand zu einem schwachen Winken erhoben.
Mein Bruder Hans hatte mir den Koffer getragen und mich auf den Bahnhof begleitet. Er war arbeitslos. «Mach’s gut», sagte er, nachdem er den Koffer ins Gepäcknetz befördert und mich umarmt hatte. Es war das erste Mal, dass er mich umarmte. Um alles zu überstehen, hatte ich geschäftig mit meinem Mantel hantiert und einen Haken dafür gesucht. Ich sollte nicht aus dem Fenster des Zuges schauen und er sich nicht umdrehen, so hatten wir es abgemacht. «Wurst ist nicht gut aus der GEG, ist Massenware, Wurst kaufe ich lieber bei Petersen», war Mutters Devise. Damit meine Finger von Petersens Jagdwurst nicht fettig wurden, hielt ich die Doppelschnitte zusammen mit dem Papier, in das die Mutter das Brot eingewickelt hatte. GEG war in markigen, roten Buchstaben auf das Papier gedruckt, worin das gekaufte Brot stets eingeschlagen wurde. GEG, Grosseinkaufgenossenschaft von Hamburg und Umgebung. Meine Mutter bewahrte das Papier auf, faltete es zusammen und legte es in den weissen Küchenschrank, der ein Stolz der Familie war. Der Schrank war das Gesellenstück von Walter, meinem älteren Bruder. Auch Walter war arbeitslos. Vorbei die Zeit, in der er, noch in der Tischlerlehre, nach Feierabend ein fertiggestelltes Schlafzimmer auf die schottische Karre lud, um die Fracht von der Steilshoperstrasse in Barmbek zum Möbelhändler Schulz nach Wilhelmsburg, Vogelhüttendeich, gegen ein Trinkgeld und ein gutes Abendbrot abzuliefern. Das pergamentartige Papier von der GEG war vom Falten und Zusammenlegen schon etwas mitgenommen, und die zerknitterten Ränder stachen mir ins Gesicht. Ich konnte mich verstecken hinter dem Papier; niemand konnte mein Gesicht sehen, die GEG stand dicht vor meinen Augen, aber die selbstbewussten Buchstaben in Rot sackten zusammen, und ein nasser Schleier rückte sie in graue Ferne.