Читать книгу Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe. Herausgegeben und ergänzt um Aufsätze, Primärbibliographie und Nachwort von Matthias Bormuth und Martin Vialon онлайн

90 страница из 203

Aus diesen beiden Abgrenzungen, gegen die AllegorieAllegorie einerseits und gegen die symbolischSymbol-mythischen Formen andererseits, erscheint die Figuralprophetie in einem doppelten Licht: jugendlich und neugeboren als zielsichere, gestaltende, konkrete Deutung der Weltgeschichte, uralt als späte Interpretation eines ehrwürdigen, jahrhundertelang gewachsenen, geschichtsbeladenen Textes. Das Jugendlich-Lebendige, das sie besitzt, hat ihr die fast beispiellose Überzeugungskraft verliehen, mit der sie nicht nur die Spätkulturen des Mittelmeers, sondern auch die vergleichsweise jungen Völker des Westens und Nordens gewann; das Uralte hat diesen Völkern und ihrem Geschichtsverständnis etwas eigentümlich Verschleiertes mitgegeben, um dessen schärfere Erklärung wir uns jetzt bemühen wollen. Die Figuralprophetie enthält die Deutung eines innerweltlichen Vorgangs durch einen anderen; der erste bedeutet den zweiten, der zweite erfüllt den ersten. Zwar bleiben beide innergeschichtlich geschehene Ereignisse; aber doch enthalten beide, in dieser Betrachtungsweise, etwas Vorläufiges und Unvollständiges; sie weisen aufeinander, und beide weisen auf etwas Zukünftiges, welches erst noch bevorsteht und welches erst das Eigentliche, voll und wirklich und endgültig Geschehende sein wird. Dies gilt nicht nur von der alttestamentlichen Praefiguration, die auf die Inkarnation und die Verkündung des Evangelium hindeutet, sondern auch von diesen, denn auch sie sind ja noch nicht endgültige Erfüllung, vielmehr auch ihrerseits Verheißung der Endzeit und des wahren Gottesreiches. So bleibt das Geschehen in all seiner sinnlichen Kraft doch immer Gleichnis, verhüllt und deutungsbedürftig, wenn auch die allgemeine Richtung der Deutung durch den Glauben gegeben ist. Auf diese Weise gelangt das jeweilige Weltgeschehen nicht zu der praktischen Endgültigkeit, welche sowohl der naiven wie der modern-wissenschaftlichen Auffassung von der vollzogenen Tatsache innewohnt; sondern es bleibt offen und fraglich, weist auf etwas noch Verhülltes, und die Stellung des lebenden Menschen zu ihm ist die des Geprüften, Hoffenden, Gläubigen und Wartenden. Die Vorläufigkeit des Geschehens in der figuralen Auffassung ist auch eine grundsätzlich andere als in der modernen Vorstellung von der geschichtlichen Entwicklung; denn während in dieser die Vorläufigkeit des Geschehens eine fortlaufend-allmähliche Deutung in der niemals abreißenden horizontalen Linie des weiteren Geschehens erfährt, ist in jener die Deutung jederzeit vertikal von oben zu erfragen, und die Ereignisse werden nicht in ihrer ununterbrochenen Verknüpfung untereinander, sondern voneinander abgerissen, als einzelne, im Hinblick auf ein noch ausbleibendes verheißenes Drittes betrachtet. Und während in der modernen Entwicklungsvorstellung die Tatsache jeweils selbstherrlich gesichert, die Deutung aber grundsätzlich unvollendet ist, bleibt in der FiguraldeutungFiguraldeutung die Tatsache einer im Ganzen bereits gesicherten Deutung unterworfen: sie richtet sich aus nach einem Urbild des Geschehens, das in der Zukunft liegt und bislang nur verheißen ist. Diese schon an platonisierendePlaton Gedanken erinnernde Formulierung von dem in der Zukunft liegenden Urbild, das in den Figuren nachgeahmt wird – man denke an den Ausdruck imitatio veritatis oben Seite 72 – führt uns noch weiter. Denn jenes zukünftige Urbild, obgleich noch als Geschehen unvollendet, ist bereits in Gott vollständig erfüllt und war es in seiner Vorsehung von Ewigkeit her. Die Figuren, in denen er es verhüllte, und die Inkarnation, in denen er seinen Sinn enthüllte, sind daher Prophetien eines jederzeit Bestehenden, welches nur die Menschen noch verhüllt sehen, bis der Tag kommt, an dem sie den Erlöser revelata facie geistig und sinnlich schauen werden. Die Figuren sind also nicht nur vorläufig; sie sind zugleich auch die vorläufige Gestalt eines Ewigen und Jederzeitlichen; sie deuten nicht nur auf die praktische Zukunft; sondern auf die Ewigkeit und Jederzeitlichkeit von Anbeginn an; sie weisen auf etwas zu Deutendes, das zwar in der praktischen Zukunft erfüllt werden wird, aber in der Vorsehung Gottes, in der kein Unterschied der Zeiten ist, stets schon erfüllt vorliegt; dies Ewige ist schon in ihnen figuriert, und so sind sie sowohl vorläufig-fragmentarische als auch verhüllte jederzeitliche Wirklichkeit. Das wird besonders augenfällig im Sakrament des Opfers, im Abendmahl, dem pascha nostrum, das figura Christi ist.40 Dies Sakrament, das sowohl Figur wie SymbolSymbol ist und das geschichtlich schon längst, nämlich seit seiner ersten Stiftung im alten Bunde, bestanden hat, zeigt aufs reinste zugleich das sinnlich Gegenwärtige, das verhüllt Vorläufige und das von Anbeginn Jederzeitliche, welches den Figuren innewohnt.

Правообладателям