Читать книгу Handbuch der Poetik, Band 1. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst онлайн

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Umgekehrt wird die Untersuchung nach der inneren Begründung jenes technischen Haupterfahrungssatzes für das verschiedene Verfahren der Poesie und der bildenden Kunst geeignet sein, die Erkenntnis der eigentlichen Gegenstände der künstlerischen Nachahmung von einer neuen Seite noch klarer ins Licht zu setzen.


IV.

"Es sei Fabel oder Geschichte, dass die Liebe den ersten Versuch in den bildenden Künsten gemacht habe: so viel ist gewiss, dass sie den großen alten Meistern die Hand zu führen nicht müde geworden." Aus diesem Lessingschen Satze lässt sich ein weiter gehender Schluss ziehen als der, welchen er selbst daraus folgerte: "der weise Grieche hatte die bildende Kunst bloß auf die Nachahmung schöner Körper eingeschränkt." Die unbekannte Größe des Begriffs der Schönheit, der doch erst als das Resultat einer Rechnung sich uns ergibt, deren Faktoren zunächst festzustellen sind, hemmt auch hier den Fortgang der Untersuchung.

Wenn wir mit Aristoteles annehmen, dass die ersten Anfänge des Kunsttriebes aus der Freude an der Nachahmung entstanden sind, wie wir dieselbe an den Kindern noch täglich beobachten können, so ergibt sich sogleich, dass, da naturgemäß diese ersten, rohesten Nachahmungsversuche sich solchen Gegenständen und Vorgängen zuwandten, die durch ein irgendwie beschaffenes Interesse die Seele zur Tätigkeit erregten, in den fortgesetzten, ausgeführteren Versuchen mit der zum frei wählenden Können gesteigerten Technik sich der Kreis der die Nachahmung auf sich ziehenden Gegenstände mehr und mehr auf dasjenige einschränken musste, was die Seele stark und in erwünschter Weise bewegte, was sie zu lebhafter, von Lust gefühlsbegleiteter, Tätigkeit erhöhte. Daraus folgt aber weiter, und gleichfalls schon auf Grund jener aristotelischen Analogie, dass es ein ganz uneigentlicher Ausdruck ist, wenn man in beiden Fällen von der Nachahmung der Naturobjekte selbst spricht. Nicht diese, nicht die wirklichen Vorgänge sind der eigentliche Gegenstand der im Spiele tätigen Kinderphantasie oder der primitiven Kunstübung der Naturvölker; was sie bei ihrer Nachbildung als unbewusst wirkender Antrieb leitet, ist vielmehr: diejenigen Seelenbewegungen, welche sie als Wirkungen der sie interessierenden Naturobjekte und Vorgänge erfahren haben, durch die eigene Tätigkeit aufs neue hervorzubringen, und zwar zunächst in sich selbst, auf einer höheren Stufe, dann auch bei andern. Wir sehen diese Art von nachahmender Produktion als ihrer Mittel sich denn auch keineswegs einer getreuen oder irgendwie vollständigen Wiederholung der sie erregenden Objekte bedienen; das kleinste Bruchstück davon, ja sehr abweichende Formen und Prozeduren können ihr völlig genügen, sofern sie nur geeignet sind, den aus der Wirklichkeit erfahrenen Seelenvorgang in selbständiger Erneuerung wieder anzuregen, die einmal erklungene Saite zu demselben Ton wieder in Schwingung zu setzen. Die Erfahrung zeigt sogar, dass die äußerlich getreue und vollständige Nachahmung der Wirklichkeit — bei den Kindern wie bei den Naturvölkern — der Erreichung dieses einzig und allein wesentlichen Hauptzweckes oft mehr hinderlich als förderlich ist; weit stärker und sicherer wirkt bei ihnen die einseitigste Wiederholung und die dadurch bedingte Hervorhebung des einzigen Zuges oder Momentes, an welche der interessierende Seelenvorgang sich knüpfte. Dieser Umstand ist es, auf welchem die Symbolik der Märchenwelt recht eigentlich sich aufbaut, und auf dessen Grunde sie sich zuweilen zu einer einfachen Großartigkeit zu erheben vermag, die der tiefsten Weisheit und dem feinsten Kunstsinn in gleicher Weise Genüge leistet wie dem naiven Kinderverstande.

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