Читать книгу Handbuch der Poetik, Band 1. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst онлайн

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Wenn schon die Umgangssprache auf diesem Gebiete so mit poetischen Keimen erfüllt ist, wie muss es erst die Sache des Dichters sein, diese Keime zu voller Entwicklung zu bringen! Das Materielle an den Naturdingen wird er überall nur insoweit darzustellen haben, als es dazu dient, das zu vergegenwärtigen oder schließen zu lassen, was allein die Seelen bewegt und daher der eine Gegenstand aller Kunst ist: Leben und Wirksamkeit.

Von diesem Gesichtspunkte aus zeigt sich auch am deutlichsten der Grund, warum die Vorstellungen der griechischen Mythologie so unwiderstehlich in unsre Poesie und in unsre gesamte Kunst eingedrungen sind. Die Antwort, weil sie eine Fülle schöner Gebilde enthält, ist auch hier nicht ausreichend; die unvergleichliche und unvergängliche poetische Kraft dieser Schöpfungen beruht vielmehr darin, dass das geborene Künstlervolk der Griechen die Fähigkeit, welche allen Völkern in ihrem dichtenden Kindesalter eigen ist, zur höchsten Vollendung brachte: in allem, was ihre Seele bedeutend erregte, die wirkende Energie aufzufassen, diese zu objektivieren und ihr eine psychisch und physisch entsprechend ausgebildete, ganz selbständige Individualität zu verleihen, mit der sie sich fortan auseinanderzusetzen hatten. So verfuhren sie nicht allein den Naturdingen gegenüber, den Elementen und ihrer Kraft, sondern auch Zeit und Schicksal mit ihren wechselnden Verhängnissen erschienen ihnen in solcher Verdichtung zu plastisch-objektivierten Persönlichkeiten.2 Überall tritt durch diese Fiktionen an die Stelle der toten Schilderung des Materiellen die unmittelbar die Seele bewegende Darstellung des lebensvoll Wirkenden, und das ist der Grund, der sie der Kunst so wert macht, weil er mit dem Grundprinzip aller Kunst zusammenfällt. Es ist einer der größten Züge Goethescher Lyrik, dass er es verstanden hat, hier den Spuren der Griechen nachzugehen und mit gewaltig schaffender Kraft, in der Natur wie im Reiche des Geistes, Dinge, Erscheinungen und Begriffe zu lebensvollen Wesen zu gestalten. Man denke an Gesänge wie "Meine Göttin" oder "Schwager Kronos"; und, speziell für die dichterische Erhöhung und Verklärung der Natureindrücke, an solche wie der "Gesang der Geister über den Wassern", an das ganze Heer seiner Lieder, und, um zwei klassische Beispiele zu nennen, in denen das höchste dieser Gattung erreicht ist, an die ganze erste Szene im zweiten Teile des Faust ("Anmutige Gegend." "Faust auf blumigen Rasen gebettet u. s. w.") und an den Dithyrambus "Ganymed". Aus jeder Strophe, aus jedem Verse für sich lässt sich hier die im Obigen ausgesprochene Theorie ablesen und entwickeln; und wie viel bewegt sich hier der Dichter in reiner Schilderung, freilich nie ohne den übergeordneten Zweck, in solcher Schilderung die malenden Züge wie die Strahlen in einem Brennspiegel zu versammeln und den Brennpunkt uns in die Seele zu werfen, um mit unfehlbarer Wirkung dort die von ihm gewollte Empfindung zu entzünden. So in der Schilderung der Nacht, mit ihrer heiligen Zauberkraft, Vergessenheit zu gewähren von "des Herzens grimmem Strauß" und "des Vorwurfs glühend bitt'ren Pfeilen" und Erquickung zu erneuter Hoffnung und rasch entschlossenen Taten:

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