Читать книгу Handbuch der Poetik, Band 1. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst онлайн

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Überall, wo die Empfindungen über das bloße physische Behagen oder Unbehagen, über die sinnliche Lust und Unlust hinausgehen, überall also, wo unsere Seele bewegt wird und wir im Stande sind diese Bewegungen deutlicher zu analysieren, entsprechen dieselben entweder direkt der Einwirkung einer fremden psychischen Energie auf unsre Seele oder sie entstehen, indem wir, bewusst oder unbewusst, ein Analogon solcher Einwirkung annehmen. Für Handlungen und ebenso für die bloße Erscheinung von Menschen und auch von Tieren bedarf dieser Satz keines Beweises;1 er gilt aber nicht weniger für die unbelebte Natur. Ganz direkt findet er seine Anwendung, sofern die Natur uns von Menschenhand und -Sinn modifiziert entgegentritt, mögen sie nun ordnend oder zerstörend auf sie eingewirkt haben; sie ist da gewissermaßen eine Zeichensprache, durch welche seelische Kräfte sich uns kundtun. Wo wir aber der unberührten Natur und ihren Gewalten gegenüberstehen und sie nicht etwa zum Gegenstand unserer wissenschaftlichen Erkenntnis machen, sondern uns dem Eindrucke überlassen, den sie in unserm Empfinden hervorbringt, da werden diese Eindrücke umso deutlicher und stärker sein, je mehr wir geneigt und imstande sind, in unserer Vorstellung dieselben als Analoga von Wirkungen bewusster Energien und beseelter Individualitäten aufzufassen. In der Religionsgeschichte aller Völker ist diese Naturanschauung einer der mächtigsten Faktoren, und dem lebhaft empfindenden Menschen ist sie heute wie ehedem, unbeschadet aller Aufklärung des Verstandes, unabweisbar; mag er nun in der Natur die Gottheit schauen oder das Naturganze selbst als Wirksamkeit erfassen, immer wird er, je empfänglicher sein Empfinden ist, auch im Einzelnen dazu vorschreiten, sich Himmel und Meer, Berg und Wald, bis hinab zum Baum und zur Blume, je mehr im liebevollen Beobachten und Verkehren ihm das Einzelne vertraut geworden, jedes für sich mit einer Art geheimnisvoller Persönlichkeit begabt, mit einer Analogie von Wollen und Empfinden ausgestattet zu denken und so zu ihm in seelische Beziehung zu treten. Die wahrgenommenen Eigenschaften, Bewegungen und Veränderungen übersetzen wir uns mit mehr oder weniger Kraft der angeborenen Phantasie in Lebensäußerungen einer der unseren ähnlich gearteten Seele, und so werden auch bei uns die entsprechenden Seelenbewegungen erweckt. Die Sprache selbst liefert den Beweis, die gar keine anderen Mittel besitzt, Natureindrücke darzustellen, als welche sie dieser Fiktion entnimmt; die freundliche Landschaft, das friedliche Tal, das erhabene Gebirge, der heitere oder drohende Himmel, die majestätische See und der wütende Sturm, die stolze Eiche und die altehrwürdige Linde bis hinab zu dem bescheiden versteckten Veilchen, sie alle und noch unzählige andere Wendungen geben Zeugnis, dass auch die Sprache des gewöhnlichen Lebens, sobald sie nur einigermaßen durch den Ausdruck der Empfindung sich färbt, den Satz bestätigt: nur seelisches Leben erweckt auch unsere Seele zu Leben und Bewegung; die bloßen Naturobjekte vermögen das an sich zunächst noch nicht! Sie werden dazu erst dadurch befähigt, dass wir ihnen ein Analogon jener seelischen Energien beilegen oder doch die Vorstellung davon unmittelbar mit ihnen verknüpfen.

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