Читать книгу Handbuch der Poetik, Band 1. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst онлайн

63 страница из 101

Und hiermit wäre der gesuchte tiefere Grund gefunden, warum der Dichter, sobald er den Zweck seiner Nachahmung durch das Mittel der Körperdarstellung erreichen will, sich nicht begnügen darf, an die einzelnen äußeren Züge der Gestalten uns zu erinnern, die bei ihm die Sprache nicht sprechen, die sie der Maler zu uns reden zu lassen vermag, sondern ihnen jene beseelte Bewegung erteilen muss, die, von innen heraus wirkend und unser Inneres wiederum bewegend, gleichsam — wenigstens unserem Empfinden nach, das eben dadurch erst ein poetisches Empfinden ist — jene äußeren Züge geschaffen hat, welche der Maler uns sehen lässt und durch welche er seinerseits allein die Nachahmung jener erreichen kann.

Auch der Maler wird dazu noch nicht in den Stand gesetzt selbst durch das treueste Studium der Natur, durch welches er ihre Erscheinungen bis in die kleinsten Züge kennen lernen muss, ohne doch den Blick für das Ganze dadurch zu verlieren. Das allein würde ihn doch nur zum Kopisten machen, der bei der bloßen Virtuosität in der Hervorbringung der Kunstmittel stehen bliebe: zum Künstler wird er erst dadurch, dass er durch die sicherste Beobachtung der Wirkung jedes der tausend Züge des großen Antlitzes der Natur auf das eigene Innere es nun versteht, in absichtsvoller Komposition dieselben zu dem einheitlichen Ausdruck eines selbst erfahrenen Seelenvorganges oder -Zustandes zu gestalten; zu einer Nachahmung desselben, die eben darum auch unfehlbar denselben Vorgang bei ihm ähnlich Gearteten hervorbringen muss. Der große Künstler aber ist der, dessen Empfinden zugleich das stärkste und reichste und das gesundeste ist, deshalb für die ganze Gattung gültig, einen Jeden bewegend und sein individuelles Empfinden erweiternd, läuternd und zu dem allgemein menschlichen erhebend.

Правообладателям