Читать книгу Handbuch der Poetik, Band 1. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst онлайн

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Es gibt aber zahlreiche Fälle in der poetischen und vollends unzählige in der bildnerischen Darstellung, in denen jene Operation fast unmerklich angewandt oder in denen sie gar nicht vorhanden ist, sondern wo die bloße Erwähnung und Aufzählung oder die einfache Nachbildung von Naturobjekten dem künstlerischen Zwecke vollkommen genügt. Wie sind diese mit dem oben ausgesprochenen allgemein gültigen Gesetze zu vereinigen?

Es wird auch hier auf die inneren Gründe der Sache zurückzugehen sein.

Bisher war von den deutlicher analysierbaren Empfindungen als den Gegenständen der Nachahmung die Rede; gewissermaßen als das Gegenstück derselben sind im Gemüte eine Reihe von Zuständen und Vorgängen zu unterscheiden, welche hier vornehmlich in Betracht kommen.

Noch vor den aus bestimmten Anlässen entstehenden Empfindungsvorgängen (πάθη) können in der Seele entsprechende, aber ihrer Natur nach weit unbestimmtere Bewegungen ganz spontan auch ohne den Eindruck oder die Vorstellung einer erregenden Energie stattfinden. Wie das Licht zwar nur deutlich wahrgenommen wird, wenn es auf Objekte trifft und von diesen reflektiert wird, aber doch auch ohne das vorhanden ist und leuchtet, so können jene Seelenbewegungen vorhanden sein, ohne dass wir an bestimmten Objekten uns ihrer deutlich bewusst werden und durch die mehr oder minder vollkommene Erkenntnis jener Objekte in den Stand gesetzt werden, uns von diesen Lebensäußerungen unserer Seele genauere Rechenschaft zu geben. Es macht sich da eben nur die Anlage, Neigung oder zeitweilig vorwaltende Gesamthaltung und Verfassung der Seele kund. Der Sprachgebrauch hat diese Tatsachen keineswegs unbeachtet gelassen; wir sprechen von Liebesdrang und Liebesbedürfnis, in dem Sinne dunkler Liebesempfindungen, die sich geltend machen ohne die Richtung auf einen bestimmten Gegenstand, ebenso von solcher Disposition für die Freundschaft; ganz ähnliche Gefühlserscheinungen treten der Natur gegenüber auf, oder auf religiösem Gebiete, und zwar nicht nur als bestimmten Lebensaltern vorzugsweise eigen, sondern auch als gewisse Epochen, ja ganze Zeitalter kennzeichnend. Nach allen diesen Richtungen liefern die Jugendoden Klopstocks sehr hervorragende Beispiele. Eben dahin gehört aber auch ehrgeiziger Tatendrang, der noch ganz ohne Ziel ist, Kraft- und Mutgefühl ohne Gelegenheit der Betätigung, gegenstandloses Trauern, Wehmut ohne Anlass und Sehnsucht ohne bestimmte Richtung, allgemeiner Enthusiasmus ohne inhaltlich bestimmte Form; kurz alle Empfindungen haben, ehe sie, so zu sagen, bei wirklichen Anlässen sich ereignen, in den dazu besonders gestimmten Seelen eine dunkle Präexistenz, ein undeutlicheres Abbild ihrer selbst, welches als bloße Kraft, bloßes Vermögen — δύναμις nennt es die aristotelische Ethik — dauernd vorhanden ist. Kommen nun gewisse äußere Anstöße hinzu, so geraten diese mehr oder weniger latenten Seelenkräfte oder Empfindungsvermögen auf einmal in die lebhafteste Tätigkeit.4 Ein angegebener Rhythmus, ein zufälliger Klang, eine Farbenerscheinung, z. B. ein so oder so bewölkter oder gefärbter Himmel, der bloße Anblick oder die bloße Erwähnung gewisser Gegenstände sind hinreichend einen ganzen Sturm von Empfindungen in solchergestalt disponierten Seelen hervorzurufen. Auf diese Weise können Gehörs- und Gesichtseindrücke von lediglich sinnlicher Natur ganz zufällig schon unser Empfindungsleben modifizieren;5 um wie viel mehr, wenn sie einem höheren Zwecke untertan gemacht, von einem ordnenden bewussten Willen zusammengestellt werden. Sie können dann dazu verwandt werden, geradezu den Zustand und das gegenseitige Verhältnis von solchen Empfindungsvermögen und -Dispositionen — δυνάμεις —, wie sie bei den Komponierenden vorhanden sind, nachahmend darzustellen und so wiederum bei andern zu erregen (in der Poesie wie in der Malerei und ganz besonders in der Musik und der Kunst des Tanzes); zumeist natürlich bei ähnlich Gestimmten, bis zu einem gewissen Grade jedoch bei allen, sofern nämlich die bei dem Einzelnen stark und übermächtig sich äußernde Disposition nicht abnorm ist, sondern der Gattung angehörig, oder gar wenn darin, was zu dem echten Kunstwerk erfordert wird, die Bestimmung der Gattung nach irgend einer Richtung hin sich erfüllt.

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